Foto: Jakob Fließ, Kaya Loewe © Sebastian Hoppe
Text:Tobias Prüwer, am 9. September 2024
„Nullerjahre. Jugend in blühenden Landschaften“ von Hendrik Bolz ist eine Konzentration dessen, was viele der Nachwendegeneration Ost gefühlt und erlebt haben. Das Publikum fühlt sich im eigenen Wegsehen bei Gewalt als Täter ertappt und die vier Darstellenden sind fantastisch.
„Danke fürs Helfen.“ Bitterer Sarkasmus spricht aus dem Jungen, der barfuß in einem Plattenbau-Durchgang kniet. Betretene Gesichter zeigen, wie unangenehm das den Zuschauenden ist. Sie haben eben nicht eingegriffen, als der Junge von Neonazis überfallen und gedemütigt wurde. Das Wegsehen und Nichthelfen, das Bestärken der Opfer steht im Zentrum von „Nullerjahre“, wofür das Staatsschauspiel Dresden auch reale Orte zur Bühne macht. Dabei gelingt Regisseur Kajetan Skurski das seltene Kunststück, einen aktuellen Literaturbestseller in überzeugendes Theater zu überführen.
Let’s talk about Ost
Der Beginn fällt trashig aus. In der Nebenspielstätte findet sich das Publikum in einer Talkshow namens „Dresdener Treff“ wieder. Die eine Woche zurückliegende Landtagswahl soll diskutiert werden. Auf dem Podium sitzt Hendrik Bolz, Autor von „Nullerjahre. Jugend in blühenden Landschaften“. Es ist keine Autobiografie, auch nicht wirklich ein Roman, eher die Konzentration dessen, was viele der Nachwendegeneration Ost gefühlt und erlebt haben: Nazis, Gewalt, Perspektivlosigkeit und Betäubungsmittel, lose erzählt an einem Jungen namens Hendrik und seiner Amour fou Nadja.
Bolz, Jahrgang 1988, ist in einem Stralsunder Plattenbauviertel aufgewachsen, sein Protagonist auch. Von dort stammen ebenso die anderen drei Talkshow-Gäste, sie sind seine Jugendfreunde. So weit der hübsch konstruierte Clou: Let’s talk about Ost/us. Erwartbares ist zu hören über die Wahl und die dahinterstehende Frage nach dem Phänomen „Ostdeutsch“. Einer der Vier verteidigt die AfD, eine singt „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“ (Danger Dan). Dann gibt es eine Explosion auf der Bühne, treten Schuldzuweisungen aus der Vergangenheit zutage. Jeder des Quartetts outet sich, nie nur Opfer, sondern immer auch Täter gewesen zu sein. „Härter werden“ sei damals das Motto gewesen, dem sie alle folgten. Und das mache etwas mit ihnen bis heute, auch wenn das jede:r für sich kaschiert und verdrängt. Cut.
Und dann geht es in die Plattenbauwelt gleich nebenan. Das Publikum wird in drei Gruppen aufgeteilt, die die vier Spielenden als ihre jugendlichen Rollen-Alter-Egos durchs Viertel führen. Die Touren unterscheiden sich. Auf der vom Kritiker besuchten ziehen zwei von Hendriks Freunden Gas: Sie betäuben sich durchs Einatmen von Aerosolen aus Farbdosen auf einem Spielplatz. Als eine von beiden im Sandkasten liegen bleibt, greift niemand ein. Immerhin lässt sich das Publikum nicht zum Weitergehen bewegen. Allein der Ort schafft Bedrückung, hat man die Neunziger oder Nullerjahre als Aufwachsender im Osten selbst erlebt. Gehören die Schatten ringsum in Bewegung zum Spiel? Müssen wir wirklich diesen nicht einsehbaren Durchgang nehmen? Gewalt wird hier nur angedeutet, die Ortswahl reicht für Beklemmungen aus.
Physischer, inklusive Ohrfeigen, wird das Spiel am letzten Ort. In einem Ladengeschäft findet sich das Publikum in der Mitte sitzend wieder, ganz dicht am Geschehen. Es wird ringsum auf kleinen Bühnen gespielt, die vom Kinderzimmer bis Klassenraum die Lebenswelt der Protagonisten bilden. Da geht es wild und derbe zu. Erste Rauscherfahrungen bei einem Tote-Hosen-Konzert werden mit Life-Musik dargestellt. Alkohol gibt vermeintlich Kraft, andere Drogen später auch. Gewalt hilft beim Härter-Werden. Nur kein Opfer sein.
Hier verliert sich der rote Faden etwas, was aber nicht stört. Denn die vier Darstellenden sind fantastisch. Wie die anfänglich sehr erwachsenen Figuren plötzlich zu 13-/14-Jährigen werden, wirkt schlichtweg glaubhaft. Da stimmt die Haltung bei Körpern, die noch nicht so recht wissen, was sie mit sich anfangen sollen. Und im Falle von Hendrik zum Körperpanzer wird, der alle Unsicherheit mit dem Gewaltrausch gegen andere betäubt.
Starkes Ensemble
Hübsch affektiert ist so manche Geste, wie man das aus eigener Jugend kennt. Hinter dem Spiel stecken genaue Beobachtungen und wahrscheinlich harte Proben. Gerade die gute Stunde in der Ladenbühne verlangt allen alles ab. Auch weil es die Vier vermögen, den manchmal übermäßig vielen Text spielerisch zu übermitteln. Jakob Fließ, Kaya Loewe, Willi Sellmann und Josephine Tancke scheinen sich alle Szenen gemeinsam hart erarbeitet zu haben, so dynamisch, genau und überwältigend spielen sie in jedem Moment. Man will sie gleichzeitig in den Arm nehmen und Ohrfeigen, so unfertig sind diese Persönlichkeiten. Und doch neben ihrer Zerbrechlichkeit auch so brutal fertig. Die Inszenierung evoziert eine starke Gefühlswelt, die nicht als Erklärung taugt, aber dem Verstehen hilft.
Und dann bricht aus der vermeintlich fröhlichen Feier der Pubertät zwischen Scham und Selbstüberschätzung wieder die nackte Gewalt heraus. Denn hier ist keiner nur Opfer, alle machen mit. Natürlich besonders die absente Erwachsenenwelt, die in ihrem Wegschauen nur die Starken, also die Täter unterstützt. So wie sich das Publikum beim hinsehenden Wegsehen ertappt fühlt. Wenn da ein Mädchen bewusstlos im Sandkasten liegt oder in dunkler Ecke ein Junge von Neonazis bedrängt wird. Und niemand hilft.