Foto: Die Elite hebt zum Mond ab. Gandhi steht den Arbeitssklaven bei.
© Sandra Then
Text:Michael Kaminski, am 7. September 2024
Philip Glass‘ „Satyagraha“ ist eine futuristischen Science-Fiction Oper, die die Reinkarnation Gandhis erzählt. An der Staatsoper Hannover vereinen Daniel Kramers Regie und Masaru Kumakuras musikalische Leitung indische und westliche Elemente.
Die Oper beginnt mythisch. Auf sagenhaftem Schlachtfeld, dessen grauenhafter Anblick Mohandas Gandhi zum Pazifismus bekehrt. Kaum geschehen, ermordet ihn der Erzkrieger Arjuna. Doch wandert des Friedensmanns immerfort reinkarnierte Seele in Gestalt diverser Erlöserfiguren durch Äonen bis in die allerfernste Zukunft. Das Jahr 2048 sieht ihn Partei für Arbeitssklavinnen und -sklaven ergreifen, während die sie Unterjochenden den vom Treibhauseffekt verheerten Planeten verlassen, um sich mittels Raumschiff auf den Mond abzusetzen.
Ein Jahrtausend (!) darauf fesselt Bewegungsunfähigkeit deren degenerierte Nachfahren ans Krankenlager. Gandhis reinkarnierte Seele lässt ihnen liebevolle Pflege und die lebenserhaltenden Injektionen zuteil werden. Final ein chronologischer Weitsprungrekord samt Rückkehr zur Erde: Nach geschlagenen 65 Millionen Jahren erwächst ihr eine neue -transhumane – Gattung intelligenten Lebens. Freilich wohnt dieser die uralte Gewaltbereitschaft inne. Gandhis Wiedergeburt befriedet die neue Spezies. Der großen Seele Friedenswerk ist vollbracht, sie scheidet von des Lebens Drangsalen ins Nirwana.
Futuristisches Welttheater
Was Regisseur Daniel Kramer in Hannovers Staatsoper erzählt, hat vorderhand wenig mit den in Glass‘ Oper geschilderten Ereignissen aus Gandhis südafrikanischer Lebensepoche zu schaffen. Raumzeitlich konkret zu fixierende geschichtliche Daten aus den Jahren zwischen der Jahrhundertwende bis kurz vor dem ersten Weltkrieg samt publizistischem Widerstand, Streiks, Symbolhandlungen wie der Verbrennung von den indischstämmigen Bevölkerungsanteil diskriminierenden Pässen oder dem „Marsch von Newcastle“ sind Kramers Sache nicht. Wie im Programmheft bekundet, scheut der Spielleiter davor, als „Weißer“ die Historie von „people of colour“ zu erzählen. Mag das hingehen oder nicht, das Ergebnis jedenfalls ist ein Wurf. Zumal das Libretto Verse aus der altindischen Bbagavadgita von zeitloser Gültigkeit an die Spielenden verteilt, so dass die Angaben der Szenenanweisungen eher als Behauptungen denn Belege für Historizität gelten dürfen.
Die Elite hebt zum Mond ab. Gandhi steht den Arbeitssklaven bei. Foto: Sandra Then
Kramers dystopische Zukunftsreise, in der gleichwohl immerfort Gandhis Seele als Hoffnungsfunke glimmt, weitet sich so zum mythisch durchpulsten Welttheater. Wenn der ermordete Friedensmann zur Reinkarnation vorbereitet wird, geschieht das geradezu liturgisch durchchoreografiert. Der Aufstand des zu Sklavendiensten genötigten Prekariats wider die von der verheerten Erde zum rettenden Mond sich retirierenden Ausbeuter hat die Schlagkraft veritabler Revolutionsopern. Meditation pur bietet final die in Betrachtung ihrer als Leuchtkugel in den Bühnenhimmel fahrenden Seele versunkene allerletzte Figuration des Friedestifters. Auch Broadway und Satire kann Kramer: So warten denn gestandene Chordamen und -herren in Babymontur wimmelnd, gut gelaunt und tänzelnd auf Seelen, die ihrer zur Wiedergeburt bedürfen. Selbstredend ist die Gandhis Favorit.
Wandelnder Bühnenraum und Kostüm
Alles dies stellt Justin Nardella in den umstandslos wandelbaren von Projektionsflächen für die jeweiligen Schauplätze eingefassten Bühnenraum. Die insulare Drehscheibe mutiert vom Elysium der frohgemut ihre neue Seele erwartenden Körper zum Schreckensort einer überhitzten und vermüllten Erde, dann Mondsanatorium und schließlich Biotop trans- respektive posthumanoider Intelligenz. Kostümbildnerin Shalva Nikvashvili mischt Indisches mit Westlichem, das böse Bizzare der immobil vor sich hinsiechenden Mondelite und das freundlich Skurrile der poppig-bunten chromosomgestaltigen nachmenschlichen Intelligenz.
Gleichauf mit den szenischen liegen die musikalischen Meriten. Der Chor des Hauses unter Lorenzo Da Rio agiert immerfort famos durchhörbar und hochsensibel in den dynamischen Abstufungen. Das eine Mal tönt er meditativ wie im Ashram, das andere Mal kommt er mit dramatischer Verve zur Sache. Masaru Kumakura lässt das Niedersächsische Staatsorchester die Partitur abspulen, als rezitiere ein Brahmane seine Mantren. So steigt denn aus dem Graben eine weithin ausgespannte Meditation. Wohl getan. Shanul Sharma verleiht Gandhi vokal und spielerisch noble innere Statur, geballte Energie und Achtung vor einer jeden Kreatur. Friedfertigkeit wird da zur unbezwinglichen Waffe. Die Besetzung der weiteren Partien formiert sich zur herausragenden Ensembleleistung aus einem Guss. Der Premierenjubel will kein Ende nehmen.