Foto: Sven Heiß steht zwischen seinen zwei Beziehungen (Ramona Marx und Franziska Jacobsen). © Axel_Biewer
Text:Jens Fischer, am 26. August 2024
Die Landesbühne Nord zeigt mit ihrer Inszenierung des Stücks „Bahnwärter Thiel“ toxische Familienbande vor der Lebensrealität der rasenden Industrialisierung Europas. In der szenischen Lesung sind es vor allem die rohen Emotionen, die Schlagkraft beweisen.
Es scheint eine große Liebe zur Prosaliteratur zu sein, mit der Marie-Sophie Dudzic den „Bahnwärter Thiel“ von Gerhard Hauptmann ins Theater holt. Sie will mit keiner ausgeklügelten Interpretation aufklären oder mit überholten Sichtweisen in dem Werk abrechnen. Stattdessen verteilt sie den – gekürzten – Originaltext an der Landesbühne Niedersachsen Nord auf drei Schauspieler:innen, die ihn frontal zum Publikum in aller Klarheit artikulieren. Dabei suchen sie häufig die emotionale Haltung der Person, über die gerade gesprochen wird. Ort des Geschehens ist ein halbrundes Arena-Bühnenbild (Ausstattung: Friederike Meisel), das von dräuenden Wolken begrenzt ist.
Aber es sollen nicht nur Literaturfreund:innen mit einem Sprechkonzert beglückt werden. Gestisch wie mimisch kommentiert, ironisiert und erklärt das Ensemble die Sätze und lässt sich immer wieder vergnüglich zu ausgelassenen Spielsituationen hinreißen. Wenn Thiel seine große Liebe, die zarte Minna, kennenlernt, tanztoben Sven Heiß und Franziska Jacobsen in jugendlich verzücktem Übermut. Er steckt ihr Blumen als Boten seiner Glückseligkeit in die Kleidung und singt herzallerliebst Bill Withers Hit „Just the two of us“.
Schon kommt die Nachricht vom Tod Minnas. Heiß wechselt in einen grimmig harschen Ton, zieht sich Thiel doch in die Ereignislosigkeit seines Schrankenwärter-Daseins zurück. Einsam hockt er am Bühnenrand und arrangiert Blumen immer wieder neu – andächtige, geradezu gottesdienstliche Sitzungen für seine heilige Minna. Aber schon kommt eine Nachfolgerin ins Spiel.
Neues Glück?
Thiels Körper scheint magisch von der Magd Lene (Ramona Marx) angezogen. Er grabbelt, knutscht, kläfft, schwitzt sich an sie heran. Prompte Heirat. Auch eine Zweckheirat, denn Thiel braucht für seine Arbeitszeit eine Betreuung seines Sohnes, dem Tobiaschen. Er ist auf der Bühne als Rutscherauto für Kleinkinder präsent, in der Gestalt von Dampflokomotive Thomas aus der gleichnamigen TV-Serie.
Aber Lene beeindruckt nicht als empathische Stiefmutter, sondern durch „eine harte, herrschsüchtige Gemütsart, Zanksucht und brutale Leidenschaftlichkeit“. Was Marx mit verzerrten Gesichtszügen und Keiferei verdeutlicht. Auch Luftballons zertritt sie, als Ausdruck ihrer Misshandlung des Kindes. Die will Thiel nicht wahrnehmen, duckt sich phlegmatisch weg und flüchtet hinter die Bühne in fabulierte Naturerlebnisse. „Schmachvolle Duldung“ nennt Hauptmann das.
Sehr schön funktioniert nun die Bühnensituation. Thiel steht zwischen zwei Frauen: der in seiner trauernden Fantasie überpräsent liebevollen Minna und der rüde eigennützigen Minna, der er sexuell hörig ist. Wobei die Darstellerinnen mit den Rollenklischees von der Heiligen und der Hure erfreulich zurückhaltend umgehen, wie auch Heiß den Zwiespalt Thiels von triebgesteuert „herkulischer“ und feinfühlig pflichtbewusster Männlichkeit besonnen austariert.
Emotionale Maschinerie
Auf einem TV-Gerät flimmern mehrmals Bilder aus Maschinenräumen der Industrialisierung, gegen die Hauptmann mit seinem Stück anschrieb. Die Lokomotive, deren Lärm auch in Wilhelmshaven eingeblendet wird, ist dämonisch ratterndes Symbol für die Mechanisierung des fremdbestimmten Lebens, aber auch für die „unverwüstliche Arbeiterin“ Lene, den tödlichen Fortschrittglauben und das rücksichtslos geradeaus ratternde Schicksal des Protagonisten. Denn ein Zug wird das Tobiaschen überfahren. Sven Heiß lässt seinen Thiel schreien und vollends die Kontrolle über sich verlieren. So sehr, dass er Lene sowie beider Neugeborenes tötet. Ein Amoklauf als Rache für so vieles.
Bei Hauptmann ist das eine Replik auf Büchners „Woyzeck“, der das Individuum in einer sozialen Zwangssituation zeigt. Dudzic inszeniert eine historische Geschichte. Sie deutet nur an, dass vor rund 130 Jahren irgendwo die Weichen falsch gestellt wurden. Daher bleibt der Abend ungenau, analysiert die privaten Konflikte nicht gesellschaftlich. Es geht um eine dysfunktionale Familie im kleinen Kreis. Diese bringt die performativ gut verlebendigte szenische Lesung aber durchaus anrührend über die Rampe.