Hamburg Ballett: Vom Erfinder des religiösen Balletts
Foto: Das Ballettzentrum Hamburg © Holger Badekow Text:Andreas Berger, am 13. August 2024
Nach 51 Jahren Intendanz verlässt John Neumeier das Hamburg Ballett und übergibt die Leitung an Demis Volpi. Seine Werke bleiben im Repertoire, choreografieren wird der 85-Jährige weiter. Eine Bilanz.
Ein strubbeliger Krieger, mit schreiverzerrtem Gesicht und Maschinengewehr in die Szene springend wie die explodierende Aggression selber: Dieser Odysseus ist auf Irrfahrten, und der kraftvoll-ungebärdige Alexandr Trusch in der Titelrolle wird sich erst wieder zivilisieren müssen, um als ganzer Mensch in Beziehung zu seiner Umwelt zu treten: Er muss die weibliche Seite in sich wiederentdecken, die ihn mit der eleganten Penelope von Charlotte Larzelere vereint, und die Verspieltheit seiner Kinderseele, die er beim Radfahren mit Sohn Telemachos (Louis Musin) auslebte.
John Neumeier hat im 51. Jahr als Direktor des Hamburg Balletts die „Odyssee“ von 1995 wieder ins Programm genommen, eine seiner avanciertesten Arbeiten, so frei und plastisch und kantig im Tanzstil wie der Mythos, und doch so detailreich und intim in den Konstellationen. In seinem Zusatzjahr, weil Nachfolger Demis Volpi noch nicht zur Verfügung stand, hat der Choreographie-Altmeister so noch einmal seine Modernität in Erinnerung gerufen. Und die Bedeutung von abendfüllenden Handlungsstücken, zu denen zu Saisonbeginn Cathy Marston ihre Fassung von „Jane Eyre“ beisteuerte, wie gemacht für die auch darstellerisch charakterstarke Compagnie. Leider war er mit solchen Einladungen während seiner langen Amtszeit eher zurückhaltend. Und die großen Namen wie Mats Ek, Forsythe, Kylían sind lange her.
Viel Neumeier, wenig choreographierende Gäste
Neumeier barg gewissermaßen die Stilvielfalt immer in sich selbst, genau angepasst an Musik und Tänzerpersönlichkeiten. Schön zu sehen nicht zuletzt in seinem Hamburger Abschiedsstück „Epilog“, wenn unter den fünf Ausformungen des lyrischen Ichs Aleix Martínez mit einem expressiven Solo hervorsticht, bei dem die Hände nervös flattern, gegen Brust und Gesicht schlagen, der Körper fast stürzend seinen Weg sucht. Faszinierend fluten solch expressive, auch klassische und humorvolle Passagen in Neumeiers „Anna Karenina“ ineinander. In den jeweils ersten Teilen der Beethoven-Projekte ermüdete das Prinzip auch schon mal. Seit Corona-Ende wirkt Neumeier wieder doppelt frisch und der jungen Compagnie nahe.
Klassische Formensprache
Die klassische Formensprache, die Neumeiers Basis ist, ist oft Zitat, dramaturgisch und psychologisch begründetes Ausdrucksmittel. Etwa wenn Anna Laudere als Blanche in „Endstation Sehnsucht“ in nostalgischen Pirouetten ihrer verklärten Vergangenheit nachhängt und auf die raubtierhafte Brutalität Stans (Matias Oberlin) trifft. Oder Marie im „Nussknacker“ Drosselmeyer alias Ballettmeister Petipa in ihren Traum von Ballett folgt, gekoppelt an einen ersten Pas de deux mit dem bewunderten Kadetten und Divertissement-Zitaten aus Petipas Originalballetten. Der „Schwanensee“-Prinz, bei Neumeier als Ludwig II. gedeutet, erlebt den klassischen weißen Akt als Theater im Theater. Erfüllung findet er zuletzt in den Armen des Schattens, der ihn in vielerlei Verwandlung das Stück über verfolgt hat. Es ist eine Metapher der zu Tschaikowskys und Ludwigs Zeit verbotenen, homosexuellen Liebe und Präfiguration des Todes.
In seiner „Matthäuspassion“ erfindet Neumeier quasi das religiöse Ballett, eine Passionserzählung, die sich aus stillem Schreiten, gespannt wartenden Gruppen und den existentiellen Begegnungen aus ihrer, unserer Mitte heraus ergibt, wenn unser Versagen, Leugnen, Schuldig-Werden expressiv Bewegung werden.
Der Talente-Entdecker
Rund 125 Choreographien hat John Neumeier in rund 5500 Vorstellungen in Hamburg gezeigt. Was für ein Repertoire, was für ein Team. Immer wieder entdeckt Neumeier herausragende Talente im Nachwuchs, wie dies Jahr Carsten Sass im „Epilog“. Der Prinzipal hat seine Tanzenden gut im Auge, fehlt eben kaum bei einer Vorstellung, besetzt trefflich auf Charakter, Generation auf Generation. Mit Ballettschule und Bundesjugendballett hat Neumeier, stets in gutem Kontakten zu Mäzenen, fließende Übergänge zur Vorbereitung geschaffen.
Und auch da ganz eigene Stücke. „Die Unsichtbaren“, in denen er 2022 mit dem Bundesjugendballett an die im Nationalsozialismus verfolgten, geflohenen, ermordeten Tänzerinnen und Tänzer erinnert, auch die umstrittenen Biografien der damals weiterarbeitenden Ikonen des Neuen Tanzes wie Mary Wigman untersucht, müsste eigentlich in jeder großen Tanzstadt gezeigt werden. Geschickt reinterpretiert er die damaligen Stile und integriert Sprechtheater und Film.
Auch beim Vermittlungsformat „Ballettwerkstatt“, in der er seit seinem Amtsantritt 1973 das Publikum auf seine Tanzsprache und Themen vorbereitet, war Neumeier Vorreiter. Seine Nijinsky-Sammlung könnte in Hamburg zu einem tourismusrelevanten Museum werden.
Das ist auch das Neumeier-Repertoire, um das sich künftig Lloyd Riggins kümmern soll. Mit Demis Volpi gibt es offenbar einen geschmeidigen Übergang: Er hat die Gastgeberschaft für die 50. Nijinsky-Gala im nächsten Sommer großzügig noch einmal Neumeier überlassen. Der jetzt 85-Jährige ist derweil weiter tatendurstig und wird schon in diesem Herbst sein neues Festival „The World of John Neumeier“ im Festspielhaus Baden-Baden präsentieren. Mit dem Hamburg Ballett als Gast-Compagnie. Die Ära ist offenbar nicht zu Ende.