Unbequeme Erinnerungsarbeit beim Jugendtheaterfestival „For/With/By“ in Madrid
Foto: Szene aus der Inszenierung „Lagunas Y Niebla“ beim Jugendtheaterfestival „For/With/By“ in Madrid. © Ilde Sandrin Text:Barbara Behrendt, am 16. Juli 2024
Beim europäischen Jugendtheaterfestival „For/With/By“ in Madrid sind in einem Schwerpunkt zur Erinnerungskultur drei neue Theaterarbeiten aus Berlin, Madrid und Thessaloniki zu sehen. Was kann Deutschland von den vehementen Kulturkämpfen in Spanien und Griechenland lernen?
Vor dem Teatro de La Abadía liegen sich junge Menschen weinend in den Armen. Die Inszenierung „Postkarten aus dem Osten“ von der Berliner Schaubühne über die Ukraine hat sie schwer mitgenommen. Raouf aus Frankreich erklärt: „Während der Show wurde uns schlagartig klar: Das könnte auch unser Haus sein, dass hier zerbombt wird. Kiew könnte Paris sein. Vom einen Tag auf den anderen kann sich das Leben schlagartig ändern.“
Die Inszenierung, die in Berlin schon Premiere gefeiert hat, zeigt vier Freund:innen bei einem Abendessen in der deutschen Hauptstadt: Zwei kommen aus der Ukraine, zwei aus Deutschland. Sie streiten sich über Verantwortung im Krieg, über Waffenlieferungen – aber auch über die Kollaboration der Ukraine mit Nazi-Deutschland damals. Ein Thema, das Putin bekanntlich als Rechtfertigung für seinen Vernichtungsfeldzug instrumentalisiert – daher ist es in der Ukraine ein Tabu.
Über diese Dinge muss gesprochen werden
Der Schwerpunkt Erinnerungskultur beim diesjährigen Jugendtheaterfestival „For/With/By“ in Madrid will jedoch gerade solche unbequemen Fragen stellen. Martín Valdés-Stauber, Dramaturg an der Schaubühne, hatte die Idee dafür, brachte alle Akteur:innen zusammen, leitet das Projekt künstlerisch – und hat das Stück „Postkarten aus dem Osten“ mitgeschrieben: „Es war klar, dass dieses Thema sehr unangenehm werden würde. Wir müssen aber selbst über diese Dinge sprechen, wir dürfen nicht warten, bis andere damit Propaganda machen.“
Auch der renommierte spanische Dramatiker Paco Gámez verhandelt in seinem Stück über den spanischen Bürgerkrieg ein unangenehmes Thema: Neben den zahlreicheren Gräueltaten der spanischen, deutschen und italienischen Faschisten adressiert er die Verbrechen der Anti-Faschisten zu Francos Zeit. Sein Stück mit dem Titel „Lagunas Y Niebla“, was sowohl „Tümpel und Nebel“ also auch „Blackouts und Nebel“ bedeuten kann, beruht auf Workshops mit Jugendlichen, die beweisen, dass sie sich durchaus mit der Vergangenheit in ihren Familien beschäftigen. Auf der Bühne wird daraus ein hochtouriger, komplexer Abend, der berühren kann. Etwa, als zwei Schauspielerinnen Alberto Plas Antikriegslied „Bomben über Madrid“ singen – und dabei auch die Bomben über Kiew und Gaza beklagen. Währenddessen wird Pablo Picassos „Guernica“-Massakerbild projiziert, das nur wenige Kilometer entfernt im Museum hängt.
Proteste vor dem Teatro de La Abadía
Gerade weil der Abend so unterschiedliche Perspektiven auf den Bürgerkrieg wagt, erreicht er eine breite Bevölkerung – und wird selbst von der postfaschistischen Partei VOX nicht bekämpft, wie das im spanischen Kulturkampf zuletzt häufiger vorgekommen ist. Auch vor dem Teatro de La Abadía sind die VOX-Anhänger:innen schon aufmarschiert und haben die Absetzung eines Stücks gefordert, das ihnen politisch zu links erschien.
Juan Mayorga, bekannter Dramatiker und Intendant des Theaters, ist ruhig geblieben, hat sich nicht politisch geäußert – aber das Stück trotzdem drei Wochen lang vor ausverkauftem Haus gezeigt. Fragt man ihn, ob er nicht befürchte, in absehbarer Zeit die staatlichen Subventionen zu verlieren, springt er auf, hebt den kleinen Rucksack neben seinem Schreibtisch in die Höhe und sagt: „Ich kann jederzeit gehen.“ Ob er dann nur das Theater verlassen würde oder gleich das Land, lässt er offen.
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
Das dritte Stück des Erinnerungsschwerpunkts, „96%“ von Prodromos Tsinikoris stellt nicht nur die eine oder andere unangenehme Frage, sondern ist von vorne bis hinten unbequem. Es verhandelt den heute noch immer starken Antisemitismus in Thessaloniki. Im Zweiten Weltkrieg haben die Nazis hier fast alle, nämlich 96 Prozent der sephardischen Juden ermordet. Man mag es kaum glauben, was man auf der Bühne hört: Schlendert man an der Uferpromenade in Thessaloniki entlang, so hat das Team recherchiert, geht man auf jüdischen Toten – denn die Promenade wurde aus Schutt, Steinen und Gebeinen des jüdischen Friedhofs gebaut.
Noch erschütternder ist, was die griechische Dozentin Tatiana Liani aus den Workshops zu dieser Produktion mit Jugendlichen berichtet. Als die Teilnehmenden gebeten wurden, frank und frei den Satz zu vervollständigen „Ein Jude ist…“, schrieben sie zum Beispiel: Ein Jude ist geizig; ein Jude hat Christus getötet; aus Juden soll Seife gemacht werden.
Unangenehme Fragen der Geschichte
Die Inszenierung hat nicht nur erreicht, dass diese insgesamt 300 Jugendlichen aus den Workshops mehr als ausschließlich antisemitische Beleidigungen für jüdische Menschen kennen. Sondern auch, dass vor dem Theater Thessalonikis, wo ebenfalls Marmorplatten vom jüdischen Friedhof verbaut worden sind, eine Gedenktafel darauf hinweist. Es ist, sagt Tatjana Liani, das erste Mahnmal in der Stadt, das die jüdische Gemeinde nicht selbst finanzieren musste.
Auch, wenn die drei Inszenierungen mitunter zu didaktisch wirken und inhaltlich viel zu viel verhandeln wollen, zeigt dieser Erinnerungsschwerpunkt doch eindrücklich, dass sich auch der Kulturbetrieb den unangenehmen Fragen der Geschichte stellen muss. Davon ist jedenfalls Martín Valdés-Stauber überzeugt: „Wir müssen von anderen zivilgesellschaftlichen und politischen Akteuren in Europa lernen, was es heißt, auf eine Gegenseite zu reagieren, die einen Kulturkampf und eine Instrumentalisierung der Vergangenheit herbeiführen möchte. Das ist sicher eine der wichtigsten Herausforderungen im Umgang mit rechtsextremen Kräften wie der AfD.“