Foto: Medea's Kinderen © Michiel Devijver
Text:Christina Kaindl-Hönig, am 1. Juni 2024
Zwischen Antike und Gegenwart erzählt der Schweizer Regisseur Milo Rau in „Medeas Kinder“ von mordenden Müttern aus der Perspektive ihrer kleinen Opfer. Dabei ertrinkt die Erkenntniskraft von Theater in reichlich Kunstblut und Betroffenheitskitsch. Im restlichen Programm der Wiener Festwochen spiegelt sich Raus Revolutionspathos.
Lächelnd umarmt die junge Mutter ihr kleines Mädchen. Sie streichelt es, legt ihre Arme um seinen Hals – und drückt zu. Minutenlang kämpft das Kind, tritt mit den Beinen um sich und blickt mit weit aufgerissenen Augen erschrocken in die Kamera, ehe sein Körper erschlafft. In Großaufnahme spritzt das Blut, als die Mutter mit einem langen Messer den Hals ihres Kindes aufschneidet. Ein glucksendes Röcheln entströmt dem Mund des kleine Jungen, während das Blut dick aus seinem Hals quillt.
Fünf Kinder sterben auf bestialische Weise vor dem voyeuristischen Auge einer Kamera: minutenlanger Horror, riesig projiziert auf die gesamte Bühnenrückwand. An der Rampe kauert die Mutter-Mörderin, da geht abrupt das Licht an. „OK, super gut, danke!“, ruft der Kinder-Coach (Peter Seynaeve) in die Runde. „War es nicht übertrieben?“, fragt ein Mädchen, während sich alle das Blut aus dem Gesicht wischen.
Acht Jahre nach „Five Easy Pieces“ über den Pädophilie-Fall Marc Dutroux in Belgien inszenierte Milo Rau erneut ein semidokumentarisches Stück mit Kindern. In „Medeas Kinder“, uraufgeführt am Niederländischen Theater Gent im April 2024, verquickt er Euripides‘ antike „Medea“ von 431 v. Chr. mit dem realen Kriminalfall einer Mutter, Amandine Moreau bei Rau genannt, die 2007 in Belgien ihre fünf Kinder ermordete. Wobei Rau die beiden Tragödien aus der Perspektive der Opfer erzählen lässt.
Splatter-Theater
Sechs Kinder im Alter zwischen acht und vierzehn Jahren tummeln sich auf einem Sandstrand auf der Bühne des intimen Jugendstiltheaters am Steinhof, wo Milo Rau in seiner ersten Saison als Intendant der Wiener Festwochen seine Koproduktion mit dem NTGent präsentiert. Da werden kurze, vorproduzierte Videoszenen mit erwachsenen Schauspieler:innen aus Euripides‘ „Medea“ gezeigt, die auf der Bühne synchron von den Kindern nachgespielt werden: die wilde Kolcherin im Kampf mit einem bunten Drachen auf einem Strand in Ostende, oder auch eine Straßenszene mit den Eltern der belgischen Kindsmörderin. Ein Schwarzweiß-Video zeigt eines der Mädchen in Großaufnahme: Sie spielt Moreaus Mutter, als sie sich unter Tränen an ihre Tochter erinnert. Es ist ein stiller Moment, in dem die Gesichter verschiedener Generationen zu einer Einheit verschmelzen.
Ansonsten dominieren Betroffenheitskitsch und blutige Effekthascherei das szenische Flickwerk zwischen konventionellem Video-Naturalismus in Fellkostümen und kindlichem Bühnenspiel. Denn Rau vermittelt Euripides‘ vielschichtige Medea ohne sozialpolitische Fundierung überaus eindimensional als rächende Frau eines verlassenen Mannes. „Vielleicht gibt es hier jemanden, der mich retten will?“, fragt die junge Medea-Darstellerin ins Publikum. Es ist die Liebe, die die einsamen Kindsmörderinnen hätte erlösen können, so Raus naive Botschaft in seinem Splatter-Theater, das Gewalt an Kindern befremdlich genau ausstellt, ohne tiefere Erkenntnisse zu liefern.
Revolutionspathos
Von überbordendem Pathos war bereits die Eröffnung der Wiener Festwochen am 17. Mai auf dem Wiener Rathausplatz geprägt. Ein Revolutionsspektakel mit bunten Sturmhauben und Fahnen, bei dem die „Freie Republik Wien“ ausgerufen und „Freiheit“ wie auch „Gemeinschaft“ zu Pop-Musik-Klängen beschworen wurden. Am Ende stand das Rathaus in Video-Flammen. Ein fragwürdiges Bild, das an den Justizpalastbrand 1927 erinnerte. Mit der Moralkeule des Politaktivisten verfehlt Rau als Weltenretter allzu leicht die Komplexität der Welt.
Das spiegelt sich auch in der Qualität seines künstlerischen Programms. Fragwürdig war etwa die Pseudoperformance „A Noiva e o Boa Noite Cinderela“ der Brasilianerin Carolina Bianchi. Mit K.o.-Tropfen setzte sie beim Thema Femizid auf oberflächliche Schock-Effekte. Moralisierende Betroffenheit herrschte sowohl in der Wohlfühlatmosphäre einer genderfluiden Gruppentherapiesitzung bei Leonie Böhms „Blutstück“ als auch bei Caroline Guiela Nguyens „Lacrima“ im Netflix-Format über die menschenverachtenden Ausbeutungsmechanismen in der Haute-Couture. Thematisch ergänzte Kirill Serebrennikovs Musiktheater „Barocco“ Raus Revolutionspathos trefflich, überzeugte zwar nicht musikalisch, bestach aber durch seine phantasievolle Bildsprache.
Steht bei Rau die emotionalisierende Vereinfachung im Zentrum seines Politaktivismus‘ mittels des Theaters, so ist es eine gedanklich tief durchdrungene Theatralität, die die Bühnenkunst des Ungarn Kornél Mundruczó kennzeichnet. In der Uraufführung von „Parallax“ – eine Produktion seiner freien ungarischen Gruppe, Proton Theatre –, einem der bis dato wenigen Höhepunkte der Wiener Festwochen, vermittelt er in einem vom Hyperrealismus in poetisch erhellenden Surrealismus kippenden Szenario die Wucht transgenerationaler Traumata, die durch die Erfahrung des Holocaust bei drei Generationen zu Identitätsverlust führen. Durch die sinnliche Kraft des Theaters stiftet Mundruczó lebendige Erkenntnis jenseits von Belehrung und Betroffenheit.