Die Jury

Freundliche Aussichten beim Stückepreis in Mülheim

Der Stückepreis 2024 geht an Sivan Ben Yishais „Nora oder wie man das Herrenhaus kompostiert“. Die Jury tat sich schwer die anderen sechs nominierten neuen Dramen aus dem Preisrennen zu nehmen. Insgesamt war in Mülheim ein erfreulich starkes Tableau zu erleben.

Die öffentliche Jurydebatte zog sich arg lange am letzten Abend der 49. Mülheimer Theatertage. Das lag an der Qualität aller sieben zur Diskussion stehenden Stücke, für die sich die fünf Juroren – die Schauspielerin Amanda Babaei Vieira, die Dramaturgin Anja Dirks, die Regisseurin Anna Bergmann, der Journalist Maximilian Sippenauer und der Chefredakteur Franz Wille – durchweg erwärmen konnten; allerdings wirkte der freundliche und charmante Moderator Janis El-Bira an der entscheidenden Stelle, dem Ausschluss von Stücken aus dem bereits ausführlich besprochenen Pool der Nominierten, auch ähnlich unentschlossen wie die fünf Verantwortlichen neben ihm.

So war es denn weit nach 23 Uhr als dem Saal in der Mülheimer Stadthalle wie der angeschlossenen Theaterinternetgemeinde die Siegerin verkündet wurde: die bereits vor zwei Jahren ausgezeichnete Sivan Ben Yishai gewann mit ihrer Ibsen-Überschreibung „Nora oder wie man das Herrenhaus kompostiert“. Dieser Ausgang zeichnete sich bereits zwei Stunden vorher ab, als zunächst Anna Bergmann und alle weiteren Juror:innen ihre Begeisterung für diese charmante Abrechnung mit dem fast 150 Jahre alten Feminismus-Klassiker „Nora oder ein Puppenheim“. Franz Wille beeindruckte insbsondere, wie „Klassismus und Theaterrhema elegant verbunden“ werde.

Verdienter Preis

Tatsächlich gelingt es Ben Yishai und der Übersetzerin Gerhild Steinbuch – die Berliner Autorin Ben Yishai schreibt immer zunächst auf Englisch und gilt doch zurecht als Autorin des deutschen Theaters – nicht nur einen Klassiker zu aktualisieren, sondern kritische Fragen an ihn und seine Rezeption zu stellen: Noras Mut gegen das Patriarchat in ihrem Heim aufzubegehren wird in Beziehung gesetzt zur Ignoranz gegenüber den Nebenfiguren wie dem jahrzehntelangen Dienstmädchen oder dem Paketboten, der vier Silben zu sprechen hat. Der soziale Status der Figuren ist mit der Nicht-Anerkennung ihrer performativen Leistung und damit mit Machtfragen im Theaterbetrieb sprachlich geschickt, dramaturgisch klug und mit gesellschaftspolitischer Ambition kombiniert.

Am Abend wurde vor der Jurysitzung als letztes Gastspiel zu den sieben nominierten Stücken die Uraufführungsinzenierung vom Schauspiel Hannover dieser „Nora…“ gezeigt. Die Bühne von Katja Haß bringt mit einer drehbaren, provisorisch wirkenden Showtreppe samt Steganbau diese ambitionierte Dekonstruktion in Schwung; Regisseurin Marie Bues und das achtköpfige Ensemble finden eine gelungene Mischung aus chorisch-kommentierenden Partien und individuellen Schicksalen.

Überschreibungen

Überschreibungen klassischer Texte spielten in diesem Jahr eine große Rolle: Neben Ben Yishais ausgezeichnetem Stück in Thomas Köcks „forecast:ödipus“, einer Verquickung der thebanischen Pestleiden mit der Klimakatastrophe. Und in „Laios“ von Roland Schimmelpfennig, wo die Vorgeschichte zum „König Ödipus“ nicht nur aufgefüllt wird, sondern gleichzeitig grundsätzliche Fragen nach Macht und Verantwortung aufgeworfen werden. Die zu Recht hochgelobte Darstellung des Monologs durch Lina Beckmann in der Regie Karin Beiers am Deutschen Schauspielhaus Hamburg gewann wenig überraschend denn auch den diesjährigen Publikumspreis der Stücke.

Diverse Familiendramen

Immerhin eine ausdrückliche Gegenstimme in der insgesamt harmonischen Jurysitzung gab es durch Anja Dirks für „Baracke“ von Rainald Goetz. Sie monierte bei aller sprachlichen Kraft gegen seinen Kurzschluss von Liebe und Familienleben mit dem terroristischen NSU. Ein berechtiger Einwand. Familiäre Kälte spielte auch in anderen Stücken eine große Rolle: Viel Lob dagegen auch für das stark autobiographisch geprägte Stück „The Silence“ von Falk Richter, das durchaus über den Einzelfall hinausweisend familiäre Sprachlosigkeit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschreibe.

Dimitrij Schaad erhielt denn auch für seine Solospiel in „The Silence“ mit dem Gordana-Kosanović-SchauspielerInnenpreis des Fördervereins des Theater an der Ruhr einen Sonderpreis. Felicia Zellers „Antrag auf größtmögliche Entfernung von Gewalt“ behandelt auf dokumentarischer Recherche basierend strukturelle Gewalt gegen Frauen, und wurde auch als „Sprechoper“ gelobt. Ewe Benbeneks „Juices“ scheint auch autobiographisch geprägt Abstiegsängste von Arbeitsmigrant:innen in einem kalten Deutschland zu beschreiben, mit großer sprachlicher Meisterschaft. In der Abschlussabstimmung unterlag das Stück mit 2:3 Stimmen nur knapp Sivan Ben Yishais „Nora…“

Den Kinderstückepreis war bereits vor einer Woche für „südpol.windstill“ einstimmig an Armela Madreiter gegangen. Auch hier war von einem starken Jahrgang die Rede. Im nächsten Jahr feiert das Festival, ein wichtiger Branchentreff, aber kaum ein lokal verankertes Theaterereignis, sein 50. Jubiläum. In diesem Jahr zeigte sich hier auf jeden Fall die Kraft und Lebwendigkeit der neuen Dramatik.