Foto: Romeo und Julia © Thorsten Wulff
Text:Björn Hayer, am 29. September 2023
Anna Bergmanns „Romeo und Julia“ wirbelt am Badischen Staatstheater Karlsruhe kräftig die Gender-Klischees durcheinander. Die Regisseurin beweist, das Klassiker auch heute noch existenzielle Qualitäten besitzen. Diese Kritik entstand für das Sonderheft DIE QUEERE BÜHNE.
Dass es Tarantino-Figuren einmal in „Romeo und Julia“ schaffen sollten, liegt nicht unmittelbar auf der Hand. Und doch ergibt dieses Treffen ungleicher Charaktere in Anna Bergmanns so radikalem wie gefühlsstarkem Zugriff auf den Text Sinn. Vor allem um die Gewalt in Shakespeares kanonischem Werk zu veranschaulichen. Demgemäß wütet beispielsweise Tybalt (virtuos: Anne Müller) als Kill Bill mit Samurai-Schwert und Revolver auf der Bühne. Die Liebe zwischen dem titelgebenden Paar, die bekanntlich entlang der Feindeslinie zweier Familien scheitert, findet dagegen Raum in zahlreichen Songs. Die meisten von ihnen interpretiert Frida Österberg als Julia, die durch Rede- und Videoanteile das restliche Ensemble deutlich in den Schatten stellt, insbesondere Romeo, der zum einen recht wenig spricht und zudem auch nicht als Intelligenzbestie hervortritt.
Emotionaler Tiefgang
Mit Witz und Ironie wirft die aktuelle Schauspieldirektorin am Badisches Staatstheater Karlsruhe somit viele Konstanten der Geschichte über den Haufen. Zuvorderst betrifft ihre Subversion die klassischen Geschlechterrollen. Während die Montagues durchweg von Schauspielern verkörpert werden, besteht die Riege der Capulets nur aus Frauen. Doch damit nicht genug der Gender-Konfusion. Zwar wird die Story der Liebenden nunmehr rückwärts erzählt, beginnend mit dem Tod der Protagonistin, die fieberträumend noch einmal die gemeinsame Zeit Revue passieren lässt.
Gleichwohl springen wir mit jeder Szene epochal weiter in die Zukunft. Vom Rokoko geht es in die Gegenwart und sogar in ein noch ungewisses Morgen. Das Ende dieses Abends bildet ergo den Anfang, das Fall-in-Love auf einem Ball. Dieser folgt voll und ganz den Gepflogenheiten einer diversen Gesellschaft. Zum Showgesang der Julia tragen Männer Frauenkleider, es flimmert und glitzert. Liebt euch – lautet daher der einzige Imperativ.
Kurz scheint damit die Katastrophe der Tragödie vergessen, vielleicht um in unseren dunklen Tagen doch noch ein Licht der Hoffnung aufzuzeigen. Dass diese dreieinhalbstündige Pop-Oper etwas gekürzt hätte werden müssen, bisweilen haarscharf am Kitsch vorbeischrammt – geschenkt. Was derweil zählt, ist der emotionale Tiefgang, den Bergmann wie in fast allen ihrer Realisierungen mit großer Passion auf die Bühne zu bringen weiß. Sie führt uns vor Augen, dass – im Gegensatz zu manch anderen Erschließungen im Gegenwartstheater – Klassiker auch heute noch existenzielle Qualitäten besitzen und eben nicht nur als Stoff für Karikaturen dienen. Chapeau!
Hier finden Sie das komplette Sonderheft DIE QUEERE BÜHNE.