Foto: Orlando © Matthias Horn
Text:Nicolas Garz, am 26. Januar 2024
Jossi Wieler inszeniert Virginia Woolfs „Orlando“ in einer Version von Ralf Fiedler am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg als emotionsloses Mainstream-Erzähltheater. Es fehlen mitreißende Gefühle. Diese Kritik entstand für das Sonderheft DIE QUEERE BÜHNE.
Das Schöne an der Mode ist ihre Vergänglichkeit und Wiederkehr: Fashiontrends kommen und gehen, sind lange verschwunden und tauchen dann wieder auf, als wären sie nie weggewesen. Auch im Theater gibt es Trends, aber sie sind langlebiger: So wurde das klassische Rollenspiel – ein Mensch spielt eine Rolle und durchlebt deren Gefühle – vor Jahrzehnten von einer radikal anderen Form abgelöst, in der diese Einheit aufgehoben ist. Seitdem steht nicht mehr das Erleben und Fühlen des Einzelnen im Mittelpunkt, sondern der im Kollektiv erzählte, proklamierte, nicht selten gebrüllte, klare und nackte Text. Dieses unpersönliche Theater ist längst Mainstream geworden. Man reibt sich mitunter verwundert die Augen, wenn Hamlet auf der Bühne als EIN Mensch mit echten Gefühlen gezeigt wird – der Zeitgeist wittert hier akute Fake-Gefahr, weil die Emotionen doch „nur gespielt“ sind. Wie rückständig.
Ein besonders konsequentes Beispiel des Mainstream-Erzähltheaters ist die Inszenierung von „Orlando“ am Hamburger Schauspielhaus. Die Geschichte von Orlando ist die einer Transition vom Mann zur Frau: Der Protagonist erwacht nach einem mehrtägigen Schlaf als Protagonistin, erlebt also in mehrfacher Hinsicht ein Erweckungserlebnis. Gerade dieses plötzliche Erwachen in einer gewandelten Identität ist aus heutiger Sicht so interessant, so relevant, so erzählenswert. Orlando ist queer und erlebt all die widerstreitenden Gefühle und Konflikte, die damit einhergehen. Davon könnte man erzählen, und das Publikum im besten Fall zu Reflektion und Mitgefühl anregen. Oder man macht es wie Regisseur Jossi Wieler. Er legt einen riesigen, gefällten Baumstamm auf die Drehbühne und lässt fünf Frauen bei einigen Gläschen von Hochprozentigem an einem Esstisch das bewegte Leben von Orlando nacherzählen. Sie tun das so beiläufig und uninspiriert, dass die im Grunde ganz fantastische Erzählung Virginia Wolfs einschläfernd wirkt wie eine Gute-Nacht-Geschichte.
Fehlendes Drama
Hier ist keine Krise, kein Drama, kein innerer Krieg erkennbar, und damit auch keine Überwindung, kein Mut, keine Grenzüberschreitung. Hier wütet nichts, hier tobt nichts, hier lebt nichts. Dieses Erzähltheater ist unfähig, von dem zu erzählen, was es heißt, ein Mensch zu sein. Und damit auch, was es heißt, queer zu sein. Wie sich der Wandel der eigenen Identität anfühlt. Und wie sehr es schmerzt, deshalb zurückgewiesen und gehasst zu werden. Wielers „Orlando“ hat dazu nichts zu sagen. Es ist ein Theater, das dem fühlenden Menschen so sehr misstraut, dass es sich selbst jedes Gefühl verbietet. Es ist das Theater der absoluten Gleichgültigkeit, emotionsamputiert und kalt.
Das deutsche Erzähltheater kommt mit Inszenierungen wie „Orlando“ an sein Ende. Und anders als die Mode hat es keine Kraft, sich neu zu erfinden – der Theaterbetrieb ist schließlich selbstverliebter als jeder Modezar und behäbig noch dazu. Es ist kein trauriges Ende, denn Trauer ist ja eines dieser echten Gefühle, das dieses Theater nicht mehr zulassen will. Da hilft nur Abschiednehmen: Danke, wir hatten mal eine gute Zeit miteinander, aber jetzt ist Schluss. Vorhang zu. Der Applaus ist wirklich kurz.
Hier finden Sie das komplette Sonderheft DIE QUEERE BÜHNE.