Foto: © Elisabeth Rawald
Text:Gunnar Decker, am 4. Juli 2024
Inspiriert von Angela Steideles „In Männerkleidern“ präsentiert das Harztheater das queere Sommerstück „Ich bin dann Er“, das Catharina Linck aus den Gerichtsakten hervorholt. Das Stück von Marcus Everding fragt nach Identität, die ihren Preis hat, und Rosmarie Vogtenhuber-Freitags Regie kombiniert Bürgerchor und Ensemble und macht einen besonderen Kunstgriff.
Dies ist eine eigentlich eher lustige Eulenspiegelei, die doch bitterböse endet. Nichts an ihr ist ausgedacht, sondern wurde aus den Halberstädter Gerichtsakten rekonstruiert. Am Ende, im Jahre 1721, wird Catharina Linck, die als Anastasius Lagrantinus Rosenstengel für Furore sorgte, wegen „Sodomiterey“ angeklagt und – obwohl das Berliner Criminalcollegium als Revisionsinstanz befand, dass eine solche nicht vorliege – auf Befehl des Preußenkönigs Wilhelm I. hingerichtet. Keine Gnade für Unruhestifter!
Eine Unruhestifterin, das war sie, die sich viele Jahre erfolgreich als „er“ ausgegeben hatte, für die damaligen Verhältnisse tatsächlich. Warum tat sie das? Vermutlich, weil es ihr erst als Mann möglich war, selbstbestimmt zu leben. Und wohl auch, weil es ihr Vergnügen bereitete.
Rekonstruiert aus Gerichtsakten
Die Autorin Angela Steidele hat diese Geschichte aus den Gerichtsakten rekonstruiert und das Buch „In Männerkleidern“ darüber geschrieben. Marcus Everding machte daraus dann jenes Stück, das hier in der Martinikirche in Halberstadt zur Uraufführung kommt. Kein leichtes Sommertheater, sondern ein Parcours durch die Vergangenheit, die in unserer Gegenwart fortlebt. Die immer wiederkehrende Frage dabei: Wer bin ich und um welchen Preis?
Natürlich steht der faktenreiche Stoff in der Gefahr, eher in einen didaktisch daherkommenden Urania-Abend als in jenes intensive Spiel zu münden, das den Augenblick bannt. Die Regisseurin Rosemarie Vogtenhuber-Freitag ist sich der Schwierigkeit durchaus bewusst, hier in Halberstadt eine Geschichte zu erzählen, die an den Nerv der Stadthistorie geht. Ist der Schmerz über das Geschehene wieder erweckbar? Eine grundsätzliche Frage über unser Verhältnis zur Geschichte, für die wir Nachgeborenen zwar nicht direkt verantwortlich sind, aber die uns doch etwas angeht.
Doppelte Hauptfigur
Das zu zeigen, bedarf es der epischen Bögen ebenso wie der verknappenden Zuspitzung. Um nicht bloß der Historie von Catharina Linck von Station zu Station zu folgen, was langweilig wäre, wagt die Inszenierung einen Kunstgriff: sie verdoppelt die Hauptfigur, stellt ihr ein Double zur Seite, eine Art Schatten, der das Geschehen kommentiert – und schließlich sogar in dieses eingreift.
Catharina Linck verkleidete sich als Mann und wurde dafür hingerichtet. Foto: Elisabeth Rawald
Und das erweist sich als richtig. Denn die junge Ronja Donath, die Catharina Linck als historische Figur wie auch als ihre heutige Wiedergängerin spielt – und das mit erfrischend direkter Mädchenhaftigkeit – zeigt doch noch nur die eine Seite von ihr. Gleichsam die von jedem Zweifel am eigenen Tun befreite Lichtgestalt. Ihre dunkle Seite, die notorisch manipulative Getriebenheit dieser mysteriösen Frau, die von religiöser Prophetie, derbem Söldnertum und unstillbarer Sehnsucht bestimmt wird, zeigt uns eine starke Alice Macura. Sie bringt Tiefe in die zerrissene Figur.
Kombination aus Ensemble und Bürgerchor
Der Abend funktioniert auf gleich mehreren Ebenen, getragen vom kleinen, aber spielstarken Ensemble des Harztheaters und einem Bürgerchor, der sich zum Ende hin antikisch steigert und zum eigentlichen Richter des Geschehens wird. Es ist ein Gericht über uns selbst, unsere Konventionen und Vorurteile. Der Kirchenraum bleibt als solcher mit seinen harten Holzbänken zweidreiviertel Stunden lang präsent. Aber die Ausstattung von TOTO, die sich auf ein Podest mit Falltüren im Boden, wechselnde Beleuchtung und einen halb mit weißen Vorhängen verhängten Altar beschränkt, schafft einen eigenen Spiel-Raum.
Auch wird hier die künstlerisch nie gänzlich aufklärbare Beziehung von Bühne und Leben am Beispiel von Georg Friedrich Händel zu einer Art Leitmotiv. Der Komponist wurde 1685 wie Catharina Linck in Halle geboren, nur zwei Jahre vor ihr. Furore machte er mit „Hosenrollen“, die damals in ganz Europa gefragt waren. Er wurde damit berühmt und verdiente viel Geld – ausgerechnet mit jenem Sujet, das Catharina Linck im Alltag lebte und dafür hingerichtet wurde, denunziert von einer missgünstigen Schwiegermutter (auf glänzende Weise zum Fürchten: Julia Siebenschuh). Die Musik Händels, der Klagegesang „Lascia Ch´io pianga“, wechselt dann zu Leonard Cohens „Dance me to the end of love“ – und man fragt sich, wo diese denn hier geblieben ist, begraben unter all der Interessenhaftigkeit und Getriebenheit. Es ist eben auch eine traurige, eine schwere Geschichte, die vergeblich versucht, sich selbst leicht zu nehmen.
Wiederbelebung der Catharina Linck
„Jemand hat mich gefunden unter sehr viel Papier“, ruft Catharina Linck am Anfang – und dass sie nicht Papier geblieben ist, sondern nun hier in der Martinikirche zu leben beginnt, das ist das Resultat einer bewundernswerten Kollektivleistung. Die als „Land-und-Leute-Betrügerin“ der preußischen Obrigkeit verhasste Catharina Linck, die in ihrem Alltag virtuos wie auf der Theaterbühne agierte, gibt damit dem Wort Anarchie einen melancholisch-schillernden Glanz. Dieser hat seinen Preis – gestern ebenso wie heute.