Foto: Ilia Papandreou, Chor © Karl und Monika Forster
Text:Martina Jacobi, am 13. Mai 2024
Die Komponistin Charlotte Seither dekonstruiert Ludwig van Beethovens „Fidelio“. Mit „Fidelio schweigt“ präsentiert sie eine inhaltlich und musikalisch überzeugende Neuschreibung, uraufgeführt am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen in der Regie von Hermann Schneider.
Kein erster Akt. Keine Verkleidung für Leonore. Kein Fidelio. Die deutsche Komponistin Charlotte Seither hat einen „Fidelio“ ohne Versteckspiel geschrieben. Sie lässt den ersten Akt gleich ganz weg und steigt direkt in die Handlung ein. Ein Video eröffnet: Großstadtgeräusche klingen aus dem Orchestergraben, Verkehrslaute wie ein Straßenbahnklingeln. Eleonore (Ilia Papandreou) läuft orientierungslos durch strömenden Regen, alles verschwimmt im Schleier. Dann setzt die Komponistin auf der Bühne mit Florestans (Martin Homrich) Arie „Gott! Welch Dunkel hier!“ an. Für ihn gibt es kein Grab auszuheben. Leonore ist auf Befreiungsmission – wieder im Video sieht man sie rauchend im typischen Autobahnmotel berechnend planen: Da hängt eine Gefängniskarte, Fotos vom Gebäude, die Waffe liegt bereit. Später übt sie schießen, konzentriert und ruhig, keine Spur mehr von der anfänglichen Orientierungslosigkeit.
Charlotte Seither nimmt sich nicht Ludwig van Beethovens Motive, um sie zu verändern. Teile der Oper hat sie musikalisch original übernommen, andere – inklusive eines reinen Frauenchors – eigens neu komponiert und beide Musiken einander dialogisch gegenübergestellt. Und das funktioniert sehr gut! Was sie komponiert hat, klingt düster, athmosphärisch wie aus einem Sci-Fi-Krimi. Der Text auf Beethovens Musik mit Begriffen wie „treue Gattenliebe“ steht dem konträr gegenüber und lässt die neue Leonore noch klarer erscheinen.
Macht und Verantwortung
Leonore ist hier freier, aber nicht unbedingt heldisch, nicht rein sympathisch. Was aus ihrem Mut entsteht, verstrickt sich doch auf verschiedenen Wegen in Fragen um Macht und Verantwortung. Nicht nur mit Florestan verbindet sie eine Liebesgeschichte, sondern auch mit dem Gouverneur Pizarro (Benedict Nelson) zumindest eine Liebschaft, wie eine Szene im Hotelzimmer verrät. Darin streiten sie über Macht, die er als Mittel zum Zweck, sie als Verantwortung für sich selbst sieht. Und tot ist schließlich nicht nur er, sondern auch Florestan. Beide werden beim Befreiungsversuch Florestans erschossen. Rocco (Almas Svilpa) wiederum, der Kerkermeister, ist ein nervöser Verbündeter Leonores, dessen Hände zittern, der Tabletten zur Beruhigung und nimmt und vielleicht deshalb – weil nicht „Mann“ genug – von den Mitgefängniswächtern herumgeschubst wird.
Mit viel Liebe zum Detail haben Falko Herold und Vincent Mesnaritsch ein beeindruckendes Bühnenbild für Hermann Schneiders Inszenierung entworfen. Der große Gefängnisinnenhof mit Stacheldraht und Flutlichtscheinwerfern wirkt sehr realistisch. Thomas Ratzingers Lichtarbeit tut ihr Übriges zum unheimlichen Machtunheil. Die Gefangenen schlagen rhythmisch auf ihre Teller, stöhnen im Abwärtsglissando als Opfer von Tyrannei aus Machtgier.
Starkes Orchester und Ensemble
Das ist, wogegen Leonore ankämpfen möchte. Nach den Toden verschwindet sie, kehrt Jahre später als Justizministerin zurück. Der Chor, ganz in Schwarz, singt „Heil sei dem Tag“. Dann fährt die Bühne hoch und Leonore erscheint, ebenfalls schwarz gekleidet. Wieder und immer noch hat sie eine Waffe in der Hand. „Und ich? Wer rettet mich?“, singt sie, „schau mich an. Schau dich an.“ Sie zieht die Anzugjacke an, sie ist jetzt „Manns“ genug, den negativ konnotierten männlich zugeschriebenen Eigenschaften entsprechend ermächtigt. So kann sie doch noch Retterin des Gatten sein, durch nachfolgende Taten, als Vertreterin der durch Tyrannei Leidenden.
Manches gäbe es inszenatorisch vielleicht noch etwas zu glätten, was der inhaltlichen Relevanz aber keinen Abbruch tut. Musikalisch beeindruckt die Neue Philharmonie Westfalen unter der Leitung von Peter Kattenmann mit Charlotte Seithers ebenso wie mit Ludwig van Beethovens Musik. Ilia Papandreou überzeugt vor allem zum Schluss hin stimmlich und spielerisch, genauso wie Martin Homrich als Florestan. Benedict Nelson ist ein durchdringender Pizarro und Almas Svilpa ein glaubhaft nervlich angespannter Rocco. Ein Streichquartett bleibt schließlich aus Beethovens Orchesterapparat auf der Bühne spielend übrig, als Leonore nach vorne ans Rednerpult tritt und zu einer Rede anhebt, die das Publikum – denn hier ist Schluss – nie hören wird.