Foto: Ensemble © Richard Becker
Text:Thomas Morawitzky, am 12. Mai 2024
Helgard Haug schrieb „All right. Good Night“ für Rimini Protokoll. Das Melchinger Theater Lindenhof überzeugt mit einer eigenen Interpretation.
Ein Flugzeug verschwindet, ein Mensch verschwindet: Zwei Geschichten. Helgard Haug erzählt sie nüchtern, sachlich, genau, parallel. Ein Text entsteht, der erfüllt ist von schmerzhaften Resonanzen und der Empfindungen weckt, die über Sagbares hinausgehen. Da ist ein erschreckendes Mysterium, das die Schlagzeilen beherrschte, und eines, das sich in einem ganz persönlichen, familiären Kreis zutrug.
Helgard Haug schrieb „All Right. Good Night“ für Rimini Protokoll; sie ist Mitbegründerin des Theaterkollektivs. Vor zwei Jahren wurde ihr Stück gefeiert, zum Berliner Theatertreffen geladen, für den Mühlheimer Dramatikpreis nominiert; 2023 veröffentlichte die Autorin es in Romanform. Nun ist es am Theater Lindenhof in Melchingen zu sehen, in einer ersten Neuinszenierung seit der Uraufführung im Hebbel am Ufer im Juni 2022.
Text für Emotionen
Claudia Rüll Calame-Rosset als Regisseurin in Melchingen hat einen Weg gewählt, der sich von der Uraufführung deutlich absetzt. Rimini Protokoll inszenierten „All Right. Good Night“ in Berlin als Konzertperformance mit einem projizierten, zu großen Teilen verschwiegenem Text. Im Lindenhof wandelt sich das Stück zum Sprechtheater, deklamatorisch auch. Rino Hosennen, Hannah Im Hof, Linda Schlepps und Luca Zahn teilen den Text untereinander auf, schlüpfen nur für Momente in einzelne Rollen; hinzu kommt Carola Schwelien als Stimme aus dem Off. Eine Distanz, der Verzicht auf ein betont schauspielerisches Auftreten, sagt die Regisseurin im Gespräch nach der Premiere, sei ihr ein wichtiges Anliegen gewesen – der Text solle bei den Zuschauern eigene Emotionen wachrufen. Und das tut er.
Erzählt wird vom rätselhaften Verschwinden des Fluges 370 der Malaysian Airlines im März 2014. Das Flugzeug änderte plötzlich seinen Kurs, entzog sich der Flugüberwachung, stürzte mutmaßlich über dem indischen Ozean ab. Es gilt bis heute als verschollen, die Vorkommnisse sind unaufgeklärt. 239 Menschen waren an Bord: „Souls on Board“ – „SOB“. „All right. Good night“ sind die letzten Worte, des Kapitäns, die übertragen wurden. Welches Drama mag sich abgespielt haben?
Erzählt wird auch von Helgard Haugs Vater, bei dem sich zeitgleich Symptome zunehmender Demenz bemerkbar machten. Bernhard Hurm erscheint als Projektion, spielt den Vater, steht alleine in einem Raum voller Notizzettel, lässt Stadien des Erinnerns und Vergessens, der Freunde und Verzweiflung über sein Gesicht ziehen, verfällt dem Größenwahn und der Verbitterung. „Es bleibt Demut und Depression“, sagt er, in einer Rede, die er an seinem Geburtstag für seine Familie hält.
Familiäre Szenen
Unzählige Querverbindungen zwischen beiden Erzählungen tun sich auf. Die „Black Box“ des Flugzeuges wird zum Bild des Gedächtnisses, der tiefe Meeresgrund als dunkle Welt und wahrscheinlicher Endpunkt der Flugreise zum Bild des Versinkens, Vergehens. Der Vater war Theologe, engagierte sich gesellschaftspolitisch, reiste in die USA, arbeitete in den Slums von New York – „Der weiße Pfarrer aus Stuttgart“. Und er urteilte illusionslos: „Biografisch gesehen sind wir und nicht unsere Eltern die faschistische Generation.” Vergessen, Verlust von Wahrheit auch, nehmen historische Dimensionen an.
Die Bühne, gestaltet ebenfalls von Claudia Rüll Calame-Rosset, gleicht dem Inneren eines Flugzeugs. Draußen, vor den Fenstern, sind manchmal familiäre Szenen zu sehen, leuchtet manchmal die Sonne auf dem Wolkenmeer. Jalousien gleiten herab, verdecken Teile des Bühnenraums, Neonröhren überziehen als gezackter Halbkreis die Szene. Thomas Unruh schuf eine Musik zum Spiel, die ihm mit einfachen Liedern, Glockenspiel, viel von seiner Bedrohlichkeit nimmt, sie dann aber in kurzen Noise-Attacken doch ausbrechen lässt. Zuletzt ein Bild, das, nach allem, was zuvor kam, die Flüchtigkeit, Zerbrechlichkeit des Lebens, die Sehnsucht nach Vertrauen über dem Abgrund sehr schlicht zum Ausdruck bringt. Linda, die Tochter, schildert ein altes Foto. Der Vater hält sie hoch: „Das Kind, wenige Wochen alt – im sicheren Halt. Ich fliege…“.