Foto: Vier mal Emilie: Julietta Aleksanyan, Alexandra Samouilidou, Bettina Fritsche und Maren Schwier. © Andreas Etter
Text:Michael Kaminski, am 12. Mai 2024
Am Staatstheater Mainz zeigt Immo Karaman das Monodrama „Emilie” von Kaija Saariahos. Im Zentrum steht die französische Mathematikerin und Philosophin Émilie du Châtelet als Frau der Wissenschaft, hier verkörpert durch vier Figuren.
Gräfin Émilie du Châtelet schreibt gegen den Tod an. Die Naturwissenschaftlerin erwartet mit 42 Jahren ihr viertes Kind. Vater ist ihr Liebhaber, der Dichter Jean-Francois de Saint-Lambert. In vollem Bewusstsein der mit dieser späten Schwangerschaft verbundenen Lebensgefahr umdüstern sie böse Vorahnungen. Dennoch reklamiert Èmilie für sich gleichermaßen das Recht auf Liebe und Leidenschaft wie auf Vollendung ihres wissenschaftlichen Hauptwerks, der von ihr kommentierten Übersetzung der Newtonschen „Philosophiae Naturalis Principia Mathematica“ aus dem Lateinischen ins Französische.
Wahrhaftig, die zeitweilige Lebens- und Arbeitspartnerin Voltaires ballt in sich ein Maß an Verlangen nach selbstbestimmter Liebe und wissenschaftlicher Erkenntnis, das schon die aufgeklärten Zeitgenossen wenn schon nicht gewann, so doch mindestens faszinierte. Für Kaija Saariaho und ihren Librettisten Amin Maalouf drängte die Biographie Émilie du Châtelets förmlich nach Musik als einer Kunst, in der sich mathematische Logik und Leidenschaft wie in keiner zweiten verbinden lassen.
Neue Fassung als Monodrama für drei Sopranistinnen
Die deutsche Erstaufführung des 75-minütigen Werkes, zu dem sich 2010 in Lyon erstmals der Vorhang hob, gerät am Staatstheater Mainz zu so etwas wie der Uraufführung einer revidierten Fassung: Die im vergangenen Jahr gestorbene Komponistin hatte ihr Einverständnis gegeben, das ursprüngliche Monodrama auf drei Sopranistinnen zu verteilen. Den oft nervösen, bald expressiven und immer wieder auch explosiven Gesangslinien eröffnet sich so ein reiches Spektrum vokaler Valeurs.
Emilies kühne Annahme etwa, dass es am Rand unseres Sonnensystems unbekannte Farben zu entdecken gelte, erhält dadurch zusätzliche Evidenz. Während des imaginären Dialogs mit Voltaire verfremden sich die weiblichen Stimmen elektronisch bis zu männlichem Klang. Im Orchester sorgt ein Cembalo für musikalische Anspielungen auf das 18. Jahrhundert.
Gedankliche Symmetrien
Regisseur Immo Karaman fügt dem Terzett der Sopranistinnen eine Tänzerin hinzu. Mit Gewinn. Seelische wie gedankliche Symmetrien und Asymmetrien der nun vierfach aufgefächerten Gräfin formieren sich zu immer wieder suggestiven und ins Gemüt greifenden Bildern. Ihnen allen wohnt oft Hast inne, gelegentlich die überlieferte Freude der Gräfin an Putz und Mode, ab und an Erschöpfung im Kampf um Liebe und die Vollendung des wissenschaftlichen opus summum.
Anfänglich lässt Karaman die vier Verkörperungen Emilies völlig synchron und identisch agieren, doch zerbricht diese Übereinstimmung im Konflikt der Leidenschaften für Liebe und Wissenschaft. In Erwartung des Todes fährt ein weiterer Keil in jede einzelne dieser Persönlichkeitsfacetten hinein. Karaman als sein eigener Bühnenbildner situiert die vier Figuartionen in der nämlichen Anzahl schwarz ausgeschlagener, durch Neonröhren konturierter Kabinette. Immer wieder überziehen die Videos Philipp Contag-Ladas die Wände mit Gleichungen und mathematischen Skizzen.
Fabian Posca kleidet die vierfaltige Emilie in gleichgestalte, nobel geblümte Rokokoroben, bei denen sich die von den Zeitgenossen oft betuschelte Vorliebe der Gräfin für tiefe Dekolletés andeutet. Die faszinierende Komplementarität von Affekt und Intellekt beglaubigen auf der Bühne die Sopranistinnen Julietta Aleksanyan, Alexandra Samoulidou und Maren Schwier im Verein mit Tänzerin Bettina Fritsche. Gleichermaßen für Ratio votiert und leidenschaftliches Empfinden glüht auch Hermann Bäumer mit dem Philharmonischen Staatsorchester Mainz.