Das erste – „Les Noces“ von Jean-Christophe Maillot zu Igor Strawinskys gleichnamiger Musik – fegt zu Gesang und Orchester in klarster, perfekt kontrollierter Schritttechnik wie ein geometrieverliebter Orkan am Auge des Betrachters vorbei. Schon nach 25 Minuten verlischt das Licht wieder über dem Brautpaar. Die geschwungenen, hell-durchscheinenden und anfangs im Hintergrund aufragenden Wandelemente werden zu Raumecken, die Lisa Van Cauwenbergh (Tochter/Braut) und Luca Branca (Sohn/Bräutigam) auf ihrem steil gen Himmel ragenden Hochzeitsbett zuletzt immer enger umschließen.
Akrobatische Hochzeit in Nürnberg
Maillot, seit 31 Jahren Leiter der Ballets de Monte-Carlo, dessen Werke man hierzulande selten präsentiert bekommt, spart den intimen körperlichen Vollzug der Verehelichung nicht aus. Seine moderne Umsetzung des 1923 von Bronislawa Nijinksa damals in unglaublicher Körperarchitektonik für die Ballets Russes kreierten Werks endet keineswegs mit dem Betreten des Schlafzimmers. Nachdem die Handelnden mit teils rasantem Tempo und irrem Drive regelrecht durch einen forsch-zeremoniell angelegten Handlungsablauf gejagt werden, beschließt Maillot diesen mit einem gedehnten Augenblick: die Vermählten innig umschlungen am Boden. Zuvor wurde die Frau vom Mann am s-förmigen Bett-Brett in die Höhe gestemmt. Ein fast akrobatischer Akt, dank dem sie ihm – schwerkraftbedingt – anschließend einfach in Arme und Schoß rutschen kann.
Am liebsten würde man auf die Repeat-Taste drücken, so blitzartig ging die rituelle Zusammenführung vonstatten – getragen von wunderbar in den Raum gezauberten familiären Trios oder Duetten. Dazwischen Szenen elterlichen Fortschubsens und wieder Zu-sich-Reißens. Die Tänzerinnen und Tänzer strahlen Anspannung, Neugier und Freude aus. Im spektakulär-schönen Mittelteil scheint sich letzteres Gefühl durchzusetzen. Da ziehen die sechs Braut-Mädchen und sechs Braut-Jungen flott einen riesigen Tisch auf einem Schaukelgestell über die Bühne.
Das tolle multifunktional einsetzbare Requisit wird zum Spielball sowie zum Podest weiterer symmetrischer Formationen, die ihrerseits wieder – vergleichbar den famos inszenierten Gruppendiagonalen – sogar auf markante Momente der Urfassung zurückverweisen. Dies und viele choreografische Details verleihen Maillots fein durchstrukturierten „Les Noces“ eine geradezu monumentale Eindrücklichkeit.
Tanz über den Abschied
Videoprojektionen und weißer, choreografisch effektvoll und szenisch imposant aufgewirbelter Mehlstaub sorgen in „Stop-Motion“ von Sol León und Paul Lightfoot für visuelle Überwältigung. Mehr als 35 Jahre lang haben die beiden das Nederlands Dans Theater maßgeblich mitgeprägt. In München begeistert ihr thematisch düsterer Zweiteiler „Schmetterling“ seit einem Jahr das Publikum. Nun hat Nürnberg eine – wenngleich inhaltlich und in der Rollenverteilung rätselhaftere – Fortsetzung des ersten Teils „Silent Screen“ im Programm. Musikalisch (wie in München das titelgebende zweite Stück) entfesselt durch ein Medley aus unterschiedlichen Filmkompositionen von Max Richter.
Wie das frühere „Silent Screen“ ist „Stop-Motion“ ein ungemein persönliches Stück. 2005 wurden unter Einbeziehung von Filmaufnahmen der damals sechsjährigen Tochter des nun getrennt lebenden Choreografenpaars Abschied und Trennung verhandelt. Neun Jahre später setzte sich das Duo mit der drohenden Gefahr auseinander, ihre künstlerische Heimat und die langjährige Produktionsstätte des NDT in Den Haag durch Abriss zu verlieren.
Entsprechend emotional aufgeladen sind einzelne Passagen und betont ausdruckskräftige Soli dieser raumgreifenden Arbeit. Über weite Strecken wird deren Rezeption von Video-Einspielungen auf einer rechts ins Bild hängende Projektionsfläche mitbeeinflusst. In altmodisch-opulenter schwarzer Robe wendet uns dort die zum Teenager herangewachsene Tochter der beiden Künstler den Rücken oder die ihr übers Gesicht rollende Träne zu.
Melancholie in Nürnberg
Auf der Tanzfläche darunter trägt Alisa Unzunova ein ebensolches mit langer Schleppe versehenes Kleid, bis sie sich – off stage – daraus befreit. Bestehen bleibt die Verkoppelung von Tanz und filmisch erzeugten Botschaften wie dem Fortfliegen eines Habichts dennoch. Eingebettet in die für León und Lightfoot typische choreografisch-beredte Abstraktheit finden Unzunova und der einzig ein weißes Hemd tragende Tänzer Óscar Alonso sich inmitten von sechs weiteren Akteuren wiederholt zum Paar zusammen.
Doch der Ort, an dem sie letztlich in einer Pose des Davoneilens ineinander verhakt allein zurückbleiben, beginnt sich aufzulösen. Die Hänger an den Wänden vor den Brandmauern verschwinden. Das Scheinwerfer-Gestänge fährt herab. Der Vorhang fällt. Schlusspunkt einer kurios tiefgründig-melancholischen Geschichte, die unwillkürlich beeindruckt.