Foto: Ensembleszene © Konrad Fersterer
Text:Wolfgang Reitzammer, am 15. März 2024
Caren Jeß hat als Auftragsarbeit für das Staatstheater Nürnberg ein Vierpersonenstück geschrieben, in dem jeder ein Problem mit der aktuellen Erwerbsgesellschaft hat. „Ave Joost” spielt mit unserer allgegenwärtigen Fake-Realität.
1w + 3m im Alter von 14 bis 44: so lautet die Formel für Caren Jeß’ interaktionsreiches Theaterstück, das als Auftragsarbeit für das Staatstheater Nürnberg geschrieben wurde und nun dort seine Uraufführung in den Kammerspielen fand. Die vier Hauptpersonen („Ordinary People“ steht auf einem Graffiti-Trainingsanzug) repräsentieren einen Ausschnitt aus der postmodernen Krisengesellschaft der Gegenwart. Sie stammen aus unterschiedlichen sozialen Milieus und haben eines gemeinsam: einen tragischen Knick in ihrer Sozialisation und ein Problem mit der aktuellen Erwerbsgesellschaft.
Zwischen Arbeitslosigkeit und YouTube-Jugend
Der titelgebende und lateinisch gegrüßte Joost (Justus Pfannkuch) ist als Ex-Hausmeister eines Gymnasiums gezeichnet von Arbeitslosigkeit und Drogen-Missbrauch. Der eigentlich taffe Geschäftsmann Marcus (Amadeus Köhli) – die Autorin bezeichnet ihn als „Kneifzange unter den Pinzetten“ – kann den frühen Tod seiner Tochter nicht verwinden. Sein erwachsener Sohn Bastl (Joshua Kliefert) wäre gerne Handball-Profi geworden, verkümmert aber im öffentlichen Dienst. Die drei Männer treffen sich regelmäßig zu ritualisierten (natürlich illegalen) Schießübungen in einer stillgelegten oberbayerischen Molkerei. In der Inszenierung von Branko Janack wird daraus ein verkehrter Tell-Schuss, ein wummerndes Apfel-an-die-Wand-Knallen, ein symbolischer Aggressions-Abbau, der möglicherweise die politisch korrekte Nürnberger Lebensmittel-Polizei auf den Plan rufen könnte.
In diese Welt der weißen Männer-Freundschaft schleicht sich mit weißen Plateau-Sohlen plötzlich die 14-jährige Schülerin Malin (Pola Jane O’Mara), die an sogenannten lost places Stories für ihren YouTube-Kanal filmen will. Sie erzählt vor der Web-Kamera fantastische Geschichten von Amalie und Amalia, die leider bislang nur von 27 Followern angeschaut werden. Joost wird sich bald in den Kreis ihrer Bewunderer einreihen. Ihre virtuelle Fantasy-Traumwelt ist aber ein harter Kontrast zu Joosts Industrial-Techno-Sound und dem bierseligen Mia-san-mia-Dröhnland von Vater und Sohn, die fordern, dass Malin (= die Schlaue?) schleunigst wieder aus der Schusslinie verschwindet.
Eine Molkereiwand für Video-Sequenzen
Wiederkehrende Höhepunkte des Stückes sind die Auftritte der kommentierenden Erzählerin Annette Büschelberger, die sich mit Jagdgewehr und Gummistiefeln an den handelnden Personen reibt und ihre Kurzbiografien schön ironisch mitteilt. Die resopal-glatte Molkereiwand hat eher Hafermilch-Ästhetik und ist so gar keine Nachbildung einer abgewrackten Bergbauern-Industrie-Ruine. Sie dient aber trefflich als Projektionsfläche der Video-Sequenzen, die von der Hinterbühne gesendet werden (für Bühne und Video ist Maryvonne Riedelsheimer verantwortlich).
Man erkennt, dass die Autorin keinesfalls in die Tradition des sozialen Dramas von Franz Xaver Kroetz eintauchen wollte. Stattdessen erprobt sie eine bildreiche, oftmals verrätselte Assoziations-Dramatik der Fake-Realität, verstrickt sich aber zunehmend in sprachlich verworrenes Flechtwerk mit inhaltlichen Längen. Die Suche nach Glaube, Liebe und Hoffnung rekurriert ein bisschen auf das kritische Volkstheater eines Ödön von Horváth. Die Suche nach einem Quantum Trost für Joost endet in dem absurden Bild von umgehängtem Toastbrot und Teebeutel. Am Ende bricht wieder die unschöne Realität in die Szene – mit vier gefährlichen Benzinkanistern und einem echten Gewehrschuss in der Dunkelheit. Kann aus Joost noch etwas werden? Eher nicht!