Foto: © SLT / Tobias Witzgall
Text:Eckehard Uhlig, am 10. März 2024
Am Salzburge Landestheater wird Tschaikowskis „Dornröschen“ fern vom traditionellen Mustern des Ballett Klassikers inszeniert. In dem düsteren Bühnenbild wird mit feiner tänzerischer Kunst agiert.
„In der Regel“, bemerkte ein Ballett-Kritiker, „können sich nur große Ensembles mit gut geschulten Corps de ballet an Peter Tschaikowskys Dornröschen wagen.“ Staatstheater-Großkompanien, die bei der Regel bleiben, bieten oft leicht variierte Versionen der berühmten Marius Petipa-Fassung von 1890 im akademisch-russischen Zaren-Stil, was freilich mit musealen Strukturen einhergeht. Bedeutende moderne Choreographen haben das Ballettmärchen in unsere Realität versetzt: Mats Ek beispielsweise ließ sein Dornröschen, beziehungsweise seine Prinzessin Aurora, spektakulär im üblen Drogen-Milieu versumpfen.
Überhaupt nicht an die Regeln des Ballett-Klassikers hält sich Reginaldo Oliveira, der Ballett-Chef des Salzburger Landestheaters. Seine knapp zwei Stunden beanspruchende Dornröschen-Choreographie zu Tschaikowskys Musik versucht in ganz eigener Weise mit Charles Perraults Märchen im Wechsel der Zeiten und Welten zu spielen. Im ersten Akt albern fünf Feen verspielt mit dem eben in einem gläsernen Leuchten-Schirm vom Bühnenhimmel geschenkten Dornröschen/Aurora-Baby, das, weiß gewickelt, wie ein verpuppter Kokon ausschaut. Sie legen das Päckchen in einen Kinderwagen und kurven damit wild über die Bühne. Und erinnern in ihren bonbonbunten Kostümchen an Poesie-Album-Blumenmädchen, die sich in solistischen Variationen bemerkenswert präsentieren.
In bunten Kostümen hebt sich das Ensemble vom grauen Bühnenbild ab. Foto: SLT / Tobias Witzgall
Düstere Stimmung
Die böse Fee Carabosse kommt mit zwei teuflischen Begleitern als dunkel-düster geflügeltes Libellen-Insekt daher, das später Aurora stechen wird (Kostüme Judith Adam). Die grauschwarz eingedunkel-te, nur von schwachen Neonlichtern erhellte und von einer Kassetten-Rückwand begrenzte Bühne sorgt für unheimliches Ambiente (Bühne Matthias Kronfuss). Carabosse, von einer die Rampe entlang sausenden Spielzeug-Ratte angekündigt, gibt nur noch vor, Aurora zu verfluchen, und nimmt später die erwachsene Prinzessin in eine futuristisch anmutende Design-Welt mit – es gibt kein von Dornen überwuchertes, in hundertjährigen Schlaf versunkenes Märchen-Schloss. Zunächst aber muss sich Aurora-Dornröschen an ihrem 16ten Geburtstag mit Heiratskandidaten verlustieren, die sich, rokokohaft verstaubt kostümiert, im Rosen-Adagio in Paartänzen mit den vormaligen Feen vorstellen.
Kt. Flavio Salamanka und Valbona Bushkola im zweiten Akt. Foto: SLT / Tobias Witzgall
Der zweite Akt ist, abgesehen vom modernistisch-dämmrigen Festsaal-Design, ziemlich verdunkelt und gleicht einer KI-Umwelt. Ein aus roboterhaft agierenden schwarzen Gestalten zusammengestelltes Ensemble strömt, hüpft, springt und windet sich aufrecht oder gebeugt, in Diagonalen und quer zur Rampe, in Gruppen oder vereinzelt, teils zeitlupenhaft, teils äußerst rasant über die Bühne. Hier tritt der melancholisch leidende, mehrfach von Zitteranfällen geplagte Prinz Désiré in Erscheinung, selbstverständlich in Schwarz gekleidet. Er hat zunächst mit Carabosse und ihren Spießgesellen zu tun, die Aurora als seidig pink leuchtende Rose – ein starker Farbkontrast – mehrfach über den Bühnenboden rollen. Es dauert, bis sich Désiré und Aurora zu einem leidenschaftlich-nachhaltigen Kuss zusammenfinden. Die grandiose, mit allen übrigen Protagonisten wiederholte Liebesgeste des Prinzen weckt die eingeschlafene Märchenwelt zu neuem, erfülltem Leben auf.
Tänzerische Brillanz
Besonders für diese zentralen Szenen hat Oliveira eine von klassischem Spitzentanz grundierte, originell-moderne Ballett-Sprache entwickelt, die zu Tschaikowskys Takten ausdrucksstarke Bewegungs-Phrasen entfaltet. Übereinander gleitende Soli, Duette und Gruppensequenzen sind minutiös ausgearbeitet und ideal auf die drei Solisten ausgerichtet. Dafne Barbosa ist mit delikaten Arabesken, reizenden Port de bras und in schmiegsamen Paar-Situationen eine charmante Aurora. Kammertänzer Flavio Salamanka als Désiré scheint ein Wunder an Körperbeherrschung. Noch die abstraktesten Schrittfolgen, Gesten und bodengymnastischen Gliederverrenkungen zeugen von kunstvoll verbundenem Tanz. Seine Partnerinnen behandelt er in Hebefiguren und luftigen Schleuder-Orgien mit unangestrengt athletischer Brillanz. Und Valbona Bushkola in der Carabosse-Rolle präsentiert sich als exzellente Demi-Caractère-Tänzerin von betörend geheimnisvoller Eleganz. Was die Ensemble-Mitglieder zu leisten vermögen, zeigt sich nicht zuletzt im „Walzer der vergehenden Zeit“: Alles ist getragen im Fluss der Musik, die vom Mozarteumsorchester Salzburg unter der Leitung von Carlo Benedetto Cimento mit rhythmischer Wucht aus dem Orchestergraben auf die Tanzbühne strömt.
Manche Ballettfans dürften allerdings die Apotheose, den alles abschließenden Gand pas de deux des Prinzenpaares vermissen. Doch was solls: mit dieser schwungvollen Aufführung, die Traum und Wirklichkeit, Poesie und Phantasie in sich vereint, schreibt Salzburg Ballett-Geschichte.