Alina Bucher läuft an Hayner vorbei und verliert kurzzeitig mit verzogenem Gesicht die Kontrolle über ihren Körper. Sie nimmt sich ein weiteres Trampolin und setzt sich zornig in die vordere linke Ecke der Bühne. Mehr Personen folgen, die bis auf die Farben der Röcke alle gleich aussehen, und immer wieder gibt es Streit. Dann eröffnet Harald Höbinger das Treffen, das wie eine WG-Besprechung wirkt. Das Fazit: Der verstopfte Abfluss wird ignoriert, die Steuerschulden werden ignoriert, die gemeinsame Lektüre wird verschoben.
Die Bühne im Kopf
Das Stück „Lebzeitgäste“ von Line Knutzon spielt im Kopf einer Person, in dem verschiedene Teile der Persönlichkeiten immer wieder um Entscheidungen ringen. Dafür hat Bühnenbildner Max Schwidlinski eine Art Turnhalle auf die Bühne des Neuen Theaters in Halle gebaut. Die Linien eines Basketballfeldes sind auf dem hellen Boden zu sehen, auf dem mehrere schwarze Trampoline stehen. Im Hintergrund hängen verschiedenfarbige Banner, die anatomische Querschnitte von Köpfen zeigen. Darunter stehen, nur schwer zu erkennen, die Namen der einzelnen Figuren auf der Bühne.
In diesem Raum im Inneren eines Kopfes stellen sich die insgesamt sieben Figuren verschiedenen Herausforderungen: Der Nachbar klopft und macht ein (viel zu) offensives Date-Angebot, der Briefkasten quillt über, ein nerviger Freund meldet sich an, die eigene Frisur sieht schrecklich aus.
Körperbetontes Theater in Halle
Auf die Bühne gebracht hat das Stück Mille Maria Dalsgaard: Seit dieser Spielzeit leitet sie gemeinsam mit Mareike Mikat das Neue Theater in Halle. „Lebzeitgäste“ ist ihre erste Inszenierung in dieser Funktion. Dafür hat sie sich für ein Stück aus ihrer Heimat Dänemark entschieden und dafür den Text von Line Kutzon selbst ins Deutsche übertragen und leicht an ihre andere Heimat Halle angepasst; so verortet sie eine Erinnerung an die Große Ulrichstraße in der Altstadt oder lässt die unsichtbare Protagonistin nach Delitzsch in Sachsen fahren.
Für ihre Inszenierung setzt Dalsgaard ganz auf die Pointen und wählt dafür auch einen körperlichen Ansatz: die Figuren auf der Bühne haben sehr klare Haltungen und Persönlichkeiten. Die Arme von Florian Krannich scheinen ein Eigenleben zu führen und immer wieder nach vorne zu schnellen. Marian Kindermann ist immer etwas zu freundlich und streicht sich später wiederholt über seinen unnatürlich orange leuchtenden Vollbart. Inés Schiller hat etwas von einer modischen Karrierefrau, die voller Energie alles will.
Inszenierung verliert sich in Pointen
Obwohl das Ensemble diese Rollen wunderbar ausfüllt und so von einer Situation in die nächste schlittert, verliert sich die Inszenierung leider immer wieder in diesen Ideen. Dalsgaard erfindet beispielsweise noch eine weitere Figur, die den Namen der Autorin trägt: Line und von der Tänzerin Amelie Watson verkörpert wird (choreografische Mitarbeit: Michal Sedláček). Welchen Persönlichkeitsteil sie verkörpert, bleibt unklar, auch weil sie sich an den pointierten Dialogen nie wirklich beteiligt. Vielleicht ist sie die unsichtbare Protagonistin, die sich aus diesen Persönlichkeitsteilen zusammensetzt. Doch warum trägt sie das gleiche überzeichnete Kostüm und reagiert nicht stärker auf die Entscheidungen des ungewöhnlichen Kollektivs? Überhaupt kommen wir der eigentlichen Heldin kaum nahe, wir sehen selten echte Gefühle und entwickeln wenig Mitgefühl.
Auch in den Streitereien setzt sich die Inszenierung sehr auf die Pointen, sodass die Entscheidungen kaum ihre Bedeutung entfalten. Dass ihr Nachbar die unsichtbare Protagonistin für eine schnelle Nummer ausnutzen wollte, geht in den Diskussionen fast unter. Als sich das Ensemble zusammensetzt, um einen Roman zu lesen, zieht sich der Witz, dass der zornige Personenteil wie eine Anfängerin liest, quälend in die Länge.
Leider wird so das Atypische dieser Person überbetont, anstatt sich auf das zu konzentrieren, was wir doch alle kennen: Dass wir lieber Gossip konsumieren, als unsere Persönlichkeit zu entwickeln; dass wir Angst vor Rechnungen haben und davor einsam zu sterben und dass wir alle mit verschiedenen Versionen unseres Selbst spielen. Obwohl das Stück eine spannende Einsicht in einen Charakter wirft und die Inszenierung mit den zahlreichen absurden Einfällen immer wieder für Lacher sorgt, bleibt am Ende ein Gefühl von Langeweile.