Stefan Herheim, Regisseur und Intendant am MusikTheater an der Wien

Musiktheater konzertant?

Das MusikTheater an der Wien ist das einzige im deutschsprachigen Raum mit einem Abo für konzertante Aufführungen. Warum das so gut funktioniert, erklärt uns Intendant Stefan Herheim.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Stefan Herheim, warum spielen Sie so viele konzertante Opern 2023/2024? Ist das dem Umbau geschuldet oder ist die konzertante Oper ein unverzichtbarer Baustein ihrer Opern-Dramaturgie?

Stefan Herheim: Im Gegensatz zu Repertoire-Häusern ist das MusikTheater an der Wien sowohl räumlich als auch betrieblich als Stagione-Haus aufgestellt. Das heißt, dass wir hier und in der Kammeroper bis zu 14 szenische Neuproduktionen pro Saison rausbringen, jede Produktion aber nur 5 bis 12 Mal spielen können. Zwischen den Vorstellungen braucht es immer einen Ruhetag für die Sänger:innen, sonst bräuchten wir mehrere Casts pro Produktion. Um die Zahl der spielfreien Tage zu minimieren, programmieren wir bis zu 10 konzertante Opern pro Spielzeit, die im stehenden Bühnenbild der jeweils laufenden szenischen Produktionen aufgeführt werden können. Mein Vorgänger Roland Geyer hat diese Agenda mit großem Erfolg etabliert und ich setze sie fort – unabhängig von der Generalsanierung des Theaters an der Wien – in der Ausweichspielstätte im MuseumsQuartier und auch bei der Rückkehr ins eigene Haus im Herbst 2024. Denn konzertante Opern bilden eine markante Programmsäule und haben bei uns ein begeisterungsfähiges Stammpublikum.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Viele konzertante Aufführungen beim MusikTheater an der Wien sind eingekaufte Gastspiele. Haben Sie Einfluss auf die Werkauswahl?

Stefan Herheim: Auch wenn wir in den meisten Fällen fertige Gastspiele einkaufen und aus dem wählen, was unterschiedliche Konzertagenturen und tournierende Ensembles gerade anbieten, entscheiden natürlich wir, welche Werke mit welchen Künstler:innen bei uns zur Aufführung kommen. Zum Glück ist die Auswahl in Europa ziemlich groß, denn selten können wir als Stagione-Haus ohne eigenes Orchester und Sänger:innensemble konzertante oder halbszenische Veranstaltungen von Grund auf allein planen oder als Koproduktionen realisieren. Wir sind jedoch im engen Austausch mit vielen wiederkehrenden Klangkörpern und ihren künstlerischen Leiter:innen, und sprechen langfristig über interessante Werke und Projekte, die wir bei uns gerne präsentieren möchten und so für unsere langjährigen Partner:innen „Tournee-fähig“ machen.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Was sind die Kriterien für Werke, die gut geeignet sind für konzertante Aufführungen? Was macht etwa Händels „Flavio“ zum geeigneten Stück? Oder „Il Trionfo del Tempo e del Disinganno“? Oder geht es nur um die passenden Stimmen und um die musikalische Vision?

Stefan Herheim: Die Frage, ob für die Bühne geschriebene Werke szenisch interpretiert werden müssen, um als lebendiges Musiktheater zur Geltung zu kommen, ist für mich nicht nur als Regisseur mit einem eindeutigen „Ja“ zu beantworten. Das schließt aber konzertante Aufführungen nicht aus, denn jede musikalische Interpretation eines auf einen Text rekurrierenden Werkes ist inhaltlich motiviert und suggeriert Bilder, welche die Kreativität der Zuhörer:innen herausfordert und ihnen Schlussfolgerungen abverlangt. Jede Kunsterfahrung findet schließlich im Empfänger statt, womit man bei einer konzertanten Opernaufführung von einer Vorstufe der assoziativen Werkstatt sprechen kann, die bei einer szenischen Vorstellung eine höhere, künstlerische Geschlossenheit bildet. Gerade zur Prüfung des theatralen Potenzials eines historischen Werks in unserer Zeit sind konzertante Aufführungen höchst interessant.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Wie sieht eine ideale Oper für konzertante Aufführungen aus? Ist das immer ein Werk, das „schwierig zu inszenieren“ ist?

Stefan Herheim: Wer Musiktheater so pauschal betrachtet, reduziert seine Vielfalt auf wenige äußerliche Eigenschaften und Merkmale. Für mich ist lebendiges Musiktheater die relevante Vermittlung von musikdramatischen Intentionen, weswegen ich gerne von der Möglichkeit rede, Oper mit den Ohren zu sehen, mit den Augen zu hören, sie mit dem Verstand zu fühlen und mit dem Herzen zu verstehen – also vom grenzüberschreitenden Verständnis einer kaum definierbaren Sprache, die Sinn durch Sinnlichkeit stiftet. Dieses Wunderwerk gelingt aber selten, und wenig ist so prätentiös, peinlich und langweilig wie uninspirierte, szenische Opernaufführungen. Kann das synergetische Potenzial dieser Kunstform aber freigesetzt werden, ist sie mit nichts anderem vergleichbar. Und das habe ich sowohl bei rein konzertanten Aufführungen von Opern des Standardrepertoires erlebt, als auch bei szenischen Produktionen von Werken, die bis dahin als „uninszenierbar“ galten.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Sind die konzertanten Aufführungen denn voll? Wissen Sie, ob  die konzertante Form ein anderes Publikum anspricht als das szenische Musiktheater?

Stefan Herheim: Es gibt ein sehr populäres Abonnement nur für unsere konzertanten Aufführungen, die oft ausverkauft sind. Da haben wir tatsächlich ein ebenso treues wie enthusiastisches Stammpublikum, das sich ganz dem Zauber der Musik und der Entdeckung seltener Werke hingeben will. Insbesondere Werke der Barockzeit und Frühklassik erfreuen sich da großer Beliebtheit – wir selbst konzipieren aber auch bewusst moderne Klassiker wie zum Beispiel den Poulenc-Abend mit Anna Caterina Antonacci.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Welche Rolle spielen konzertante Aufführungen in der Aus- und Weiterbildung von Sänger:innen? Gibt es viele Sänger:innen, die konzertante Oper bevorzugen?

Stefan Herheim: Tatsächlich nutzen nicht wenige Künstler:innen diese Form, um neue, schwierige Partien für sich zu erarbeiten und auszuprobieren. Die starke Konzentration auf die musikalisch-dramatische Ausführung hilft dann auch enorm bei zukünftigen szenischen Projekten. Von Edita Gruberova über Joyce DiDonato bis zu Jeanine De Bique ist das seit vielen Jahrzehnten eine wirklich gute „Schule der Geläufigkeit“, wenn wir diesen Terminus einmal von Czerny entlehnen dürfen. Und nicht wenige dieser großen Sänger:innen haben damit im Theater an der Wien das Publikum begeistert!

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Stefan Herheim, geboren 1970 in Oslo, studierte von 1994 bis 1999 bei Götz Friedrich in Hamburg Musiktheaterregie. In den Jahren nach 2000 wurde er zu einem Opernregisseur. Wichtige Arbeiten waren unter anderem „Giulio Caesare“ von Händel in Oslo (2005), „Do Giovanni“ in Essen (2007), „Parsifal“ in Bayreuth (2009) und „Pique Dame“ von Tschaikowski in Amstredam und London (2015). 2020/2021 inszenierte er Wagners „Rind des Nibelungen“ in Berlin. Seit der Spielzeit 2022/2023 ist er Intendant des MusikTheaters an der Wien.

Mehr über konzertante Musiktheateraufführungen lesen Sie in Ausgabe 2/2024 von DIE DEUTSCHE BÜHNE.