Diesmal wollte sie aus dem Vollen schöpfen. „In Ordnung“ heißt ihre neue Arbeit, und sie bezieht selbstverständlich auch deren Gegenteil mit ein, das Chaos. Der Zuschauerraum ist ausgedünnt, Sitzreihen sind ausgebaut, zwischen den Sitzen spannt sich ein Netz aus Gängen, Laufstege für diesen raumgreifenden Abend. Nachdem zu Beginn alle eine ganze Weile in der Ruhe der Orgelpfeifen-Ordnung verharrt haben, beugen sie ganz langsam die Knie. Samuel Koch rollt von rechts nach links, fährt den Sitz seines elektrischen Rollstuhls hoch. Nun ist er der Größte. Es folgt Walter Hess, der nun seine Chance als Größter der insgesamt kleiner gewordenen Reihe gekommen sieht. Und Fabian Moraw, der silberne Plateaustiefel zu Hilfe nimmt. Schon diese Anfangssequenz zeigt: Jede Ordnung ist menschengemacht. Relativ. Und: veränderbar.
Auseinanderbrechen der Ordnungen
Auch außerhalb des Theaters sind viele Ordnungen weggebrochen in den vergangenen Jahren: durch die Pandemie, durch den Krieg in der Ukraine, durch Werteverschiebungen innerhalb der Gesellschaft. Uhlich spiegelt dieses Auseinanderbrechen, indem sich die Darsteller:innen aus der anfänglichen Formation im Raum verteilen, zu den einsetzenden elektronischen Sounds von Boris Kopeinig beginnen, zunächst über die Bühne, dann auch durch den Zuschauerraum zu schreiten, zu gehen, zu rennen. Es kommt zu Beinahe-Karambolagen, mal drängeln und tümmeln sich alle auf einem Fleck, dann wieder verteilen sie sich scheinbar zufällig im Raum.
Aus dem Chaos entsteht eine neue Ordnung. Irgendwann wird Sina Leinweber sich eine Walter-Hess-Maske überstülpen, andere tun es ihr gleich, bis der Schauspieler auf einmal in fünffacher Ausführung auf der Bühne steht. Das Original schaut sich irritiert um, löst sich aus der Gruppe, beginnt, wie ein Flummi zu hüpfen, um zumindest in der Bewegung einen Rest an Individualität zu finden. Vergebens: die anderen tun es ihm gleich.
Ensemble © Julian Baumann
Später werden gerüstähnliche Objekte von der Decke herunterfahren, die Bühnenbildnerin Juliette Collas entworfen hat und die mit allerlei Symbolen versehen eine Orientierung vortäuschen, die sie nicht bieten. Die Spieler:innen werden unter ihnen hindurch kriechen und sie erklimmen, an ihnen rütteln und sie im Raum verschieben, sie drehen und wenden. Samuel Koch wird sie mit seinem Rollstuhl anschieben und auch mal Dennis Fell-Hernandez oder Anna Gesa-Raija Lappe auf einem Rollbrett hinter sich herziehen. Wenn eine:r sich aus der Gruppe löst, ziehen die anderen nach. Wie Wellen breiten sich Bewegungsmuster im Raum aus, wirken ansteckend. Sie alle tun das Gleiche und doch tut jede:r es auf seine Façon. Die identische Bewegung wirkt anders, je nachdem wer sie ausführt. Uhlich sucht die Verschiedenheit in der vermeintlichen Gleichförmigkeit, die Individualität in der Masse. Wie menschliche Maschinen bewegen sich hie und da alle im selben lauten Rhythmus der Musik, und bleiben doch in ihrer Andersartigkeit erkennbar.
Halt im Gemeinsamen
Immer exzessiver geht es zu auf diesem Laufsteg der Diversität, der in seinem Höhepunkt den gesamten verfügbaren Raum in Beschlag nimmt: Da rollt Samuel Koch mit einem pinken Fransen-Sonnenschirm über die Bühne, während Legomännchen, ein Skelett und ein aufblasbarer T-Rex durch die Zuschauerreihen tanzen und in der Proszeniumsloge eine silberne Krake tanzt. Darunter räkelt sich kopfüber Jelena Kuljiç, die an den Füßen Hand-Schuhe aus schwarzem Gummi trägt. Zwischen allen geht der zauberhafte Walter Hess ab, der ungefähr mit seinem 80. Geburtstag das Tanztheater für sich entdeckt hat und seitdem bei keiner Tanzperformance an den Kammerspielen fehlt. Wie er sich den harten Beats hingibt, sich verliert in Rhythmus und Bewegung, ist allein für sich ein erfüllendes Erlebnis.
Die Schauspieler:innen, die hier zu Tänzer:innen werden, suchen Halt, doch die Elemente sind ihnen keine sicheren Anker. Sie befinden sich in einem unsicheren Zustand, in dem auf nichts Verlass ist – außer vielleicht auf das Gegenüber, das Gemeinsame. Am Ende finden alle zusammen, verschwitzt, verausgabt, außer Atem. Sie heben Samuel Koch auf eins der Podeste, gruppieren sich um ihn. „Ich will noch nicht gehen“, sagt dieser. „Ich will noch ein bisschen tanzen.“ Es wird wieder ruhiger bei diesen ersten und einzigen Sätzen, die an diesem Abend gesprochen werden. Am Ende hört man nur noch das gemeinsame Atmen nach der Anstrengung. Sie haben sich gefunden als Gruppe. Nicht in der Ordnung. In ihrer Verschiedenheit. Ja, ein bisschen rührselig mag das sein, und besonders radikal ist dieser Abend auch nicht. Geschenkt: die gute Laune des Ensembles macht das locker wett.