Foto: Ensemble des Staatsschauspiels Dresden in „Atlantis‟ © Sebastian Hoppe
Text:Michael Laages, am 28. Januar 2024
Erneut arbeitet Regisseur Sebastian Hartmann mit dem Musiker PC Nackt zusammen, um philosophisches und bildstarkes Musiktheater auf der Bühne zu zeigen. In Dresden bringen sie mit „Atlantis‟ Gedanken- und Wortfetzen von Arthur Schopenhauer auf die Bühne.
Kaum jemanden sonst gibt’s im aktuellen Theaterbetrieb, der die denkbaren Grenzen szenischer Spiel-Fantasien derart konsequent und regelmäßig verschiebt und überschreitet wie Sebastian Hartmann. Aus der freien Szene rückte er einst (vor bald drei Jahrzehnten) an die Seite vom Stilbildner Frank Castorf. Und wenn überhaupt jemand dessen widerständige (und gern auch widersprüchliche) Methodik transponiert hat in die Gegenwarten des Theaters, dann ist das bis heute der 1968 geborene Hartmann aus Leipzig. In seiner Geburtsstadt unternahm er fünf Jahre lang, von 2008 bis 2013, den Versuch, auch den Apparat des Stadttheaters selbst zu transformieren mit der eigenen Kunst-Behauptung. Sehr nachhaltig war das nicht.
Danach inszenierte Hartmann regelmäßig bei Ulrich Khuon am Deutschen Theater in Berlin und bei Joachim Klement in Dresden; inzwischen ist er nur noch an der Elbe (ein bisschen) zu Hause. Dort versammelt er regelmäßig das mittlerweile auf ihn eingeschworene Ensemble für herausfordernde Forschungsarbeiten, im Text und über die Texte hinaus. Zuletzt besorgte er die Uraufführung von Michel Houellebeqs Roman „Vernichten“. Nun nahm er sich wieder vor, Neuland zu erforschen: im Werk des Philosophen Arthur Schopenhauer.
Auf ganz eigene Weise bringt Sebastian Hartmann in Dresden die Gedanken von Schopenhauer auf die Bühne. Foto: Sebastian Hoppe
Philosophie und Pop
Dessen Werk hat ja nichts Szenisches, nichts auch nur ansatzweise Dramatisches in Material und Struktur – also musste die Annäherung durch die Bühnenkünste andere Wege gehen: Damit kam der Komponist und Musiker PC Nackt ins Spiel, Hartmanns regelmäßiger Partner.
Der Däne hat gut eineinhalb Stunden Musik geschrieben, auf die das Dresdner Team um Chefdramaturg Jörg Bochow nun chorisch und solistisch Texte aus Schopenhauers Hauptwerk von 1818 verteilt: der philosophisch-theoretischen Spurensuche über „Die Welt als Wille und Vorstellung“. Wer weiß – vielleicht hätte sehr gelegentlich eine Art Schopenhauer-Pop draus werden sollen.
Gedanken driften auf der Bühne
Und so driftet die sechsköpfige Spiel-Gruppe (drei Frauen und drei Männer) durch Schopenhauers Motive: „Hinter den Sternen“ finden sich da „schwarze Löcher“ und „Kinderpupillen“, natürlich immer wieder auch der „Wille“, der den Gang der Welt, genauer: deren „Vorstellung“ vorantreibt.
Zusammenhang ergibt sich vor allem im Sound – und im Bild, das Sebastian Hartmanns Bühne vorgibt. Eine bühnenfüllende Struktur aus runden Stangen und Streben dreht sich fast ständig im Raum. Mit viel Fantasie lässt sich eine Art Kopf imaginieren, in dem und durch den hindurch sich das Ensemble bewegt.
Mit sanfter Ironie beginnt der Abend: Der Komponist klettert von der Bühne herab und führt einen unsichtbaren Kollegen an der Hand, hin zu zwei Tastenburgen vor der ersten Reihe, einem normalen Flügel sowie einem klavierartig präparierten Instrument. Beide nehmen Platz – und die Reise beginnt.
PC Nackt komponierte und spielt die Musik in „Atlantis‟. Foto: Sebastian Hoppe.
Berechenbare Musik
Ziemlich markant durchziehen Strukturen der „Minimal Music“ die Kompositionen von PC Nackt. Jenseits davon hält der Musiker sich fern von jeder stilistischen Zuordnung; auf Fach-Chinesisch heißt so etwas „post-genre music“ und wird mittlerweile in weiten Bereichen neuerer komponierter Musik propagiert. Fast immer ist dabei auch das, was improvisatorisch wirkt, sehr genau notiert.
Das muss in Dresden auch so sein – denn die Schauspielerinnen und Schauspieler sollen sich mit den fragmentarischen Texten ja berechenbar bewegen können im Klang. Auch kollektive Choreografien zeichnen sich bald ab – die allerdings nehmen gelegentlich den etwas zweifelhaften Charakter einer Art Eurhythmie-Sitzung an.
Immer wieder findet die Gruppe der sechs Körper zueinander, und aus intensiver gegenseitiger Umarmung strömen sie dann wieder auseinander. „Ich nenne das ‚waves‘“, heißt es mehrmals: die Welt also nicht nur als „Wille und Vorstellung“ sondern auch als Welle!
Sechs Mitglieder des Dresdner Schauspiel-Ensemble teilen sich die Gedanken Schopenhauers auf. Foto: Sebastian Hoppe
Ensemble aus Dresden ganz hingebungsvoll
Manchmal – zugegeben – wirkt das Werk ein wenig albern. Aber das macht gar nichts. Zumal auch der Titel und Obergriff, „Atlantis“ eben nicht zwingend in Schopenhauers Richtungen weist – dessen illusionslose, von der Wirkmacht des Nichts geprägte Gedankenwelt sieht einen paradiesischen Glücks- und Zufluchtsort wie die sagenhafte Stadt am Meeresgrund eher nicht vor.
Auch die Bildwelten des Abends, mit Hartmanns glänzendem Kopf-Gestänge, recht oft in sehr viel Nebel getaucht, überzogen von den Video-Animationen des Hartmann-Kumpels und bildenden Künstlers Tilo Baumgärtel sowie im Licht von Lothar Baumgarte, lassen alle Wege offen; hin nach Atlantis und hinab ins Inferno.
Hingebungsvoll bewegt sich in all dem das Ensemble, die Männer in schwarzen Mönchskutten (wie immer bei Hartmann entworfen von der Kostümbildnerin Adriana Braga-Peretzky), die Frauen in ansatzweise durchscheinend-engelhaftem Weiß. Torsten Ranft beginnt mit einer kleinen Ernst-Jandl-Paraphrase, in der sich ein Schopenhauer-Satz Wort um Wort vervollständigt. Auf ihn und Nadja Stübiger, auf Kriemhild Hamann und Sarah Schmidt, Marin Blülle und David Kosel werden von nun an die Text-Bausteine verteilt.
Zusammenklang der Dinge im Theater
Und immer fügen sich Denksport und Musik erstaunlich entspannt zueinander. Bis hin zum Moment, in dem konsequente Stille zu herrschen beginnt – das ist einer der schönsten Moment des Abends. Auch das Publikum erfasst dieser stille Sog – kein Husten, nirgends.
Das Abenteuer erntet Ovationen. Ob wir jetzt schlauer sind, was Schopenhauer betrifft? Nicht unbedingt. Aber einmal mehr ist Sebastian Hartmann, diesem Sonderling und Grenzgänger, das Kunststück des eigenwilligen, vielleicht sogar einzigartigen Zusammenklangs der Dinge gelungen: im Denken und im Singen, in Klang und Bewegung, im Spielen der Künste also. Wer das „Totaltheater“ nennen möchte, hat vielleicht recht.