Foto: Steven Cloos und Tim-Fabian Hoffmann in "Die Mitte der Welt" am Theater Ingolstadt © Ludwig Olah
Text:Manfred Jahnke, am 22. Dezember 2023
Scheinbar alle bekannten und weniger bekannten Sorgen des Erwachsenwerdens erzählte Andreas Steinhöfel mit mythischen Qualitäten. Das Theater Ingolstadt bringt den Roman „Die Mitte der Welt“ in stark gekürzter Form auf die Bühne. Dabei überzeugt die Inszenierung vor allem mit geschickten Wechseln, aber nicht im Gesamteindruck.
In „Die Mitte der Welt“ erzählt Andreas Steinhöfel in der Form eines Bildungsromans innerhalb einer kurzen Zeitspanne (von Sommer bis zum Neujahrstag) die Geschichte eines Erwachsenenwerdens. Phil lebt zusammen mit seiner Zwillingsschwester Dianne und seiner Mutter Glass in der Villa Visible. Seine Mutter ist mehr als unkonventionell: Sie liebt Sex, aber keine Bindungen. Kein Wunder, dass die Einwohner des Orts (der irgendwo in Europa liegt) die Nase rümpfen und hinter vorgehaltener Hand ihre Verachtung ausdrücken. Phil und Dianne sind „Hexenkinder“. Man meidet sie. Phil und mehr noch Dianne leiden darunter, dass keine Freundschaften entstehen. Die „kleinen Leute jenseits des Flusses“ grenzen sie aus. Behäbiges Kleinbürgertum setzt mit Gewalt seine Regeln gegen alle durch, die anders sind.
Im Zentrum des Romans von 1998 steht eine Dreiecksgeschichte von 17-jährigen jungen Menschen: Phil und Kat lernten sich einst im Krankenhaus kennen, als ihnen die zu großen Ohren gekürzt werden sollten. Aber dann lernt er nach den Sommerferien Nicholas kennen, den Läufer, in den er sich verliebt. Dieser bleibt jedoch verschlossen – wie so viele Menschen in der Umgebung von Phil. Er verzweifelt, als er zufällig Nicholas und Kat beim Sex beobachtet. Als er ihn zur Rede stellen will, kommt ihm Wolf (ein Freund aus alten Tagen) dazwischen, der mit einer Schrotflinte auf Phil schießt, aber das Auge von Nicholas trifft.
Im Zentrum von „Die Mitte der Welt“ steht eine Dreiecksbeziehung. Foto: Ludwig Olah
Die Leerstellen auf der Bühne
Es ist kein leichtes Unterfangen, einen im Taschenbuchformat 460-seitigen Roman auf der Bühne auf 90 Minuten einzudampfen. In seiner Fassung am Theater Ingolstadt konzentriert Niko Eleftheriadis sich auf diese Dreiecksgeschichte. Außer Glass kommen Erwachsene, wenn überhaupt, nur in Kurzauftritten vor. Dass das lesbische Paar Teresa und Pascal gestrichen ist, die den „erwachsenen“ Gegenpol zu Phil und Nicholas bilden, ist ebenso schade, wie die Streichung der Figur des Lehrers Händel, der der Romanhandlung die philosophische Tiefe gibt. Es verwundert, dass die Anspielungen auf die griechische Mythologie, die in dem Roman eingewoben und Steinhöfel so wichtig sind, herausfallen. Auch das Außenseitertum der Familie um Glass wird mehr behauptet und erscheint wenig sinnlich.
Das Ensemble des Theaters Ingolstadt wechselt meist überzeugend und blitzschnell die Rollen. Foto: Ludwig Olah
Gutes Schauspiel in Ingolstadt
Eleftheriadis behält am Theater Ingolstadt die Ich-Form des Erzählers bei. Die Figuren erscheinen aus der Perspektive von Phil, erhalten aber in den dramatischen Szenen eigene Konturen. Insbesondere Lisa Fedkenheuer als Glass erarbeitet sich eine aufrechte Haltung gespeist vom Wissen, anders zu sein und dies Anderssein auch zu zelebrieren. Sie kann zuhören, überlässt dabei auch ihren Kindern die Aufgabe, für sich herauszufinden, was ihnen gut tut. Fedkenheuer spielt das mit einer starken Zuwendung. Sie kann aber auch unwirsch werden, wenn die Kinder auf sie mit zu drängenden Fragen einstürmen. Aber wirklich aggressiv wird sie nie. Diese Aggressivität ist Enea Boschen in ihrer Doppelrolle als Dianne und Kat vorbehalten. Dass hinter der verschlossenen Haltung der Zwillingsschwester Wut lauert, das beschreibt Steinhöfel eindringlich und Boschen setzt das genau um. Warum aber auch Kat so lautschreierisch sein muss, wird nicht so recht durch das Rollenbild begründet. Der Rollenwechsel wird – wie im Erzähltheater üblich – durch den Tausch von Requisiten (hier: Perücken) angezeigt.
Steven Cloos spielt Phil: Er legt ihn staunend an, auch verletzlich. Er will seinen Platz in der Welt nach seinen Vorstellungen, aber als 17-Jähriger muss er sie sich erst erarbeiten. Als er Nicholas – dem Tim-Fabian Hoffmann aasig-überlegene, wenn man will: arrogante Züge gibt – begegnet, tut sich für ihn eine neue Welt auf und mit ihr neue Gefühle wie Eifersucht beispielsweise. In der Annäherung zwischen den Beiden gibt es zarte, ja zaghafte Momente, die wunderschön sind. Phil ist ein selbstkritischer Erzähler seiner Geschichte und die der Bewohner von Visible. Michael Amelung hat die undankbare Aufgabe, in Kurzauftritten verschiedene Figuren wie den Anwalt Michael, mit der sich Glass verbindet, oder den Jungen Wolf mit dem Schrotgewehr, blitzschnell auf die Bühne zu stellen.
Die Inszenierung von „Die Mitte der Welt“ spielt mit mehreren Räumen. Foto: Ludwig Olah
Schnelle Wechsel im Theater
Heike Mondschein hat in die Werkstatt des Theater Ingolstadt drei Bühnen eingerichtet: Auf der Hauptbühne dominieren ungefähr 40 teilweise in Plastik verhüllte Vorhänge – quer zum Publikum aufgehängt – die, wenn sie hin- und hergeschoben werden, Spielräume öffnen. Zudem braucht es meist nur noch ein kleines Podest, um verschiedene Spielorte anzudeuten. Rechts neben der Hauptbühne ist leicht verdeckt ein kleines Fernsehstudio aufgebaut.
An den Seiten des Publikumsraums gibt es zwei weitere kleine Bühnen, die eher Intimräume andeuten, zumal links auch auf einer Leinwand Gesichter per Live-Video projiziert werden, meistens wenn es um die Auseinandersetzung von Glass mit ihren Zwillingen geht. Niko Eleftheriadis nutzt dieses szenische Angebot für eine Spielweise mit hohem Tempo. Mit den Mitteln des Erzähltheaters, das schnelle Verwandlungen zulässt, wird so die Geschichte eines Erwachsenenwerdens erfahrbar; von einem jungen Menschen, der seinen Platz in der Welt sucht.