Foto: BLUTBUCH nach dem Roman von Kim de l’Horizon © Kerstin Schomburg
Text:Martina Jacobi, am 16. Dezember 2023
Im Ballhof Zwei des Schauspiel Hannover zeigt Regisseur Ran Chai Bar-zvi die deutsche Erstaufführung von „Blutbuch“ nach Kim de l’Horizon gleichnamigem Roman. Die Inszenierung bietet eine tolle Show und greift den Inhalt flächendeckend auf. Was fehlt, ist etwas Eigenes.
Die Meer und die Grossmeer, Berndeutsch für Mama und Oma, aus dem Französisch abgeleitet von „mère“ (Mutter) und „grand-mère“ (Großmutter). Daraus spinnt Kim de l’Horizon in der Wortwelt weiter hin zum Ozean, zur Mutter als Meer, dem der Mensch nicht entkommt, zum Ahnen-Gefühlswirrwarr, aus dem man ein Leben lang versucht herauszuschwimmen. Alles zu erben, kann eben auch eine Drohung sein.
Um diese vor allem weiblich Ahnenlinie geht es in Kim de l’Horizons’ „Blutbuch“, das gleich den Deutschen und Schweizer Buchpreis 2022 erhielt. „Es war einmal ein Ich, Ich war einmal ein Es, ich bin einmal als Mensch geboren worden und aufgewachsen […] und damals gab es zwei Geschlechter, also meinen Körper gab es damals noch gar nicht“, schreibt die genderfluide, nichtbinäre Person in ihrem Debütroman.
Drag Show und Lip Sync
Die Geschichte von Grossmeer zieht im „Blutbuch“ wie eine grausige Mär auf. Ein Bericht von Monstern der Familie, die eben nicht oder nie ganz weggehen. Es geht um gerade das, was nicht ausgesprochen wurde; wie gern der Grosspeer die Schwester der Grossmeer mochte, die dann ganz früh schwanger wurde, obwohl sie doch nie rausdurfte.
Regisseur Ran Chai Bar-zvi gibt in seiner Inszenierung dem gefühlsbrutalen Roman einen Start mit Showeinlage. Die drei Darstellenden, Drag Queen Olympia Bukkakis und Fabian Dott sowie Nils Rovira-Muñoz vom Hannoveraner Schauspiel-Ensemble, präsentieren in der Cafeteria des Ballhof Zwei eine tolle Drag Show mit Lip Sync-Auftritten („Lauf und hol Wasser für die Blumen der Liebe“ der Vicky Leandros Singers). Das Publikum wird angehalten, ordentlich Lärm zu machen, auch dann, wenn die Show shitty ist, denn so sei ja auch das Leben, mal schön, manchmal nicht ganz so sehr — „but like that it’s a lot more fun!“, bekräftig Olympia Bukkakis, mit Lärm eben.
BLUTBUCH nach dem Roman von Kim de l’Horizon © Kerstin Schomburg
Bukkakis, Dott und Rovira-Muñoz führen überzeugend als Dreierkonstellation durch die ganze Inszenierung, verkörpern die Meer, die Grossmeer oder die Hauptfigur, deren Loveboys und Freunde. Die Requisite (Bühne: Ran Chai Bar-zvi) zeigt Grossmeer-Einrichtung: einen Fernseher, den Sessel dazu, den alten Schreibtisch, der jetzt der Hauptfigur gehört und die kunstvollen „Truckli“ — Kästchen aus Stein, Holz oder Glas, die Grossmeer gesammelt hat, die so viel Raum einnehmen und eigentlich doch nur leer sind, „ich wusste, dass sie kleine Bröckchen ihrer Leere abgeschnitten hatte und diese darin aufbewahrte.“
Körper als Projektionsflächen
Die Ahnenlinie der Hauptfigur steht im „Blutbuch“, aber auch die Blutbuche im Garten der Grossmeer, die nicht nur zur Familie der Hauptfigur, sondern auch in die Geschichte der deutschen Gartenkultur gehört. Hier folgt ein Exkurs zu Heinrich Friedrich Wiepking, der diese prägte, 1941 unter Heinrich Himmler zum Sonderbeauftragten des Reichskommissars für die Festigung Deutschen Volkstums ernannt. Die Geschichte erzählt eben Spannendes über den Alltag, wie er so ganz normal erscheint. Die Vergangenheit ist tief in der Zukunft verwurzelt.
De l’Horizons „Blutbuch“ ist gleichzeitig poetisch und brutal, der Inhalt dicht. Die Inszenierung in Hannover pflückt sich daraus einen ganz stringenten Erzählstrang, bringt vieles aus dem Buch unter und schürft auch am Tiefgründigen. Neben der tollen Ensembleleistung wird dem Publikum vor allem eines geboten: Eine Show, die anrührend unterhält!