Foto: Walter Hess und Johanna Eiworth im zweiten Teil der Werke von Regisseurin Anne Habermehl. © Judith Buss
Text:Tobias Hell, am 25. November 2023
Es bleibt viel Ungesagtes im Raum stehen bei der Inszenierung „Frau Schmidt und das Kind aus Charkiw“. An den Münchner Kammerspielen setzt sich die Regisseurin und Autorin des Stücks mit dem aktuellen Grauen in der Ukraine auseinander. In Form einer Familengschichte entspinnt sich eine Krise.
Die komplexen Beziehungen zwischen Ost und West stehen im Zentrum der „Europa-Trilogie“. Autorin und Regisseurin Anne Habermehl entwickelt diese aktuell an den Münchner Kammerspielen. Der erste Teil „Frau Schmidt fährt über die Oder“ beschäftigte sich 2021 mit dem Weg der Protagonistin von Polen nach Deutschland. Danach richtet sich der Blick bei „Frau Schmidt und das Kind aus Charkiw“ nun aus leider nach wie vor aktuellem Anlass Richtung Ukraine.
Ungesagtes im Raum
Erzählt wird eine chronologisch verschachtelte Geschichte auf zwei Zeitebenen. Zunächst begegnen wir da einem deutschen Kriegsheimkehrer, dessen wahres Verhalten gegenüber der in Zwangsarbeit ausgebeuteten ukrainischen Bevölkerung im Unklaren bleibt. Dies gilt ebenso für das Schicksal des von ihm dort unehelich in die Welt gesetzten Kindes. Denn die Briefe an die dazugehörige Mutter Svetlana werden die Schublade seines Schreibtisches wohl nie verlassen. Viel Ungesagtes bleibt da im Raum stehen. Zwischen Herrn Schmidt und seiner entfremdeten Frau. Aber auch über das, was auf ukrainischem Boden tatsächlich ablief, wer wieviel von den begangenen Verbrechen wusste und welchen Ausweg es für die kommunikationsunfähige Familie geben könnte.
Edmund Telgenkämper, Frangiskos Kakoulakis und Johanna Eiworth zwischen Umarmung und Krise in „Frau Schmidt und das Kind aus Charkiw“. Foto: Judith Buss
Zentral ist neben der Protagonistin mit dem Allerweltsnamen auch diesmal wieder eine Figur namens Micha (später Mykhailo). Erneut verkörpert von Frangiskos Kakoulakis. Und während der Vater-Sohn-Konflikt im Nachkriegsdeutschland meist nur an der Oberfläche kratzt, wird er nach dem Zeitsprung in die Jetzt-Zeit zum Dreh- und Angelpunkt des Geschehens. Wenn das aus der Ukraine adoptierte Kind beginnt nach seinen Wurzeln zu suchen und das nach außen hin harmonische Gefüge seiner deutschen Familie daran zu zerbrechen droht.
Leitmotivisch und sarkastisch
Sprachlich versiert knüpft Habermehl hier immer wieder Verbindungen zwischen der Nachkriegs-Story und dem Adoptions-Drama. Manches taucht leitmotivisch wieder auf, anderes wird sarkastisch gespiegelt oder von den Taten des einzelnen auf die Ebene der Kollektivschuld übersetzt. „Die Nazis haben das Korn geholt und wir die Kinder.“ Hiervon ausgehend entwickelt sie eine lose Assoziationskette aus all dem, was in Sachen Ukraine durch das kollektive Bewusstsein schwirrt. NS-Kriegsverbrechen, orange Revolution, Tschernobyl, Krim-Invasion, Handel mit Adoptionen und natürlich der russische Angriffskrieg. Der Schrecken dieses Krieges beherrscht seit bald zwei Jahren unsere Nachrichten . Wozu die Dramaturgie im digital abrufbaren Bonusmaterial auch noch das florierende Geschäft mit Leihmutterschaften oben drauflegt, das im Stück ausgespart wird.
Christoph Rufer hat dafür im Werkraum der Kammerspiele einen ebenso trost- wie zeitlosen Bühnenraum entworfen. Eine Spielfläche aus verblasstem Linoleumboden, symbolisch umrandet von verbrannter Erde, die in der Ukraine ebenso hinterlassen wurde, wie in den Seelen der Figuren, denen sich Johanna Eiworth und Edmund Telgenkämper mit Haut und Haare ausliefern. Während Walter Hess sprachlich prägnant eine ganze Reihe von zweifelhaften Autoritätsfiguren verkörpert, an denen sich die beiden zeitlich voneinander getrennten Paare namens Schmidt abarbeiten müssen.
Aufgelöst werden die meisten hier in den Ring geworfenen Fragen und Probleme am Ende auch diesmal nicht. Was das betrifft, darf das Publikum entweder auf den bevorstehenden Abschluss der Trilogie hoffen. Oder am besten selbst anfangen zu lesen.