Foto: Ida Zenna © Ballett und Chor in „Paradise Lost””
Text:Ulrike Kolter, am 18. November 2023
Leipzigs Ballettdirektor Mario Schröder verschränkt für seinen neuen Ballettabend „Paradise Lost” eine Haydn-Messe mit einem Chorwerk des Zeitgenossen David Lang zum Andersen-Märchen „Mädchen mit den Schwefelhölzern“. Die zwei Pole der Musikgeschichte fügen sich zu einer sakralen Einheit – und der tänzerischen Suche nach Mitgefühl und Erlösung.
Im Tanz, wie überhaupt in der Kunst, gibt es kein richtig oder falsch. Interpretation ist alles. Mit diesem schönen Gedanken entlässt uns die Dramaturgie der Leipziger Oper in einen Ballettabend, der kaum Narration serviert: Mario Schröders Uraufführung „Paradise Lost“ wird vielmehr zum bewegenden Assoziationsreigen über unser soziales Miteinander, über Einsamkeit und christliche Erlösung.
Inhaltlicher Anker dafür ist Hans Christian Andersens „Mädchen mit den Schwefelhölzern“, das der US-amerikanische Komponist David Lang (*1957) in seinem Pulitzer-Preis gekrönten Werk „The Little Match Girl Passion“ vertont hat. Das Märchen über jenes arme Mädchen also, welches in einer kalten Silvesternacht ihre Schwefelhölzer nicht verkaufen konnte, stattdessen frierend an eine Hauswand sich kauert und im Schein der Hölzer, die es nach und nach abbrennt, an den eigenen Visionen sich wärmt. Bis es am Morgen erfroren gefunden wird.
Chorwerke von Joseph Haydn und David Lang
An den eigenen Wunschträumen sich wärmen, in der Kriegskälte dieser Tage den Glauben nicht verlieren: Das ist der Gedankenkosmos, den uns Leipzigs Ballettdirektor Mario Schröder anbietet. Seine Choreografie verschränkt dafür David Langs flirrend-melodiöses Chorwerk „The Little Match Girl Passion“ (2007) mit Joseph Haydns „Missa in angustiis“ (1798) – und zwar so konsequent, dass einem Part von Lang stets ein oder mehrere Ordinarien der Haydn-Messe folgen. In diese stilistische Reibung platziert der Chefchoreograf abwechselnd riesige Ensembleszenen und intime solistische Parts, wechseln sich Haydns wuchtige Chöre ab mit Langs ostinato-artigen, hier vom Jugendchor der Oper Leipzig gesungenen und nur sparsam von Percussion begleiteten Chören (etwa „we sit and cry“). Was über 200 Jahre Musikgeschichte zu trennen scheint, verschmilzt an diesem Abend zu einem Gesamtkunstwerk in gut 200-köpfiger Besetzung.
Der mehrteilige Chor ist geschickt verteilt auf der Bühne: Jugendchor und ein Teil des Opernchores stehen im Bühnenhintergrund und singen von dort den zeitgenössischen Teil, der Rest des von Thomas Eitler-de Lint fabelhaft einstudierten Opernchores steht links und rechts halb im Orchestergraben, in dem fast verborgen auch die vier Gesangssolisten postiert sind: Samantha Gaul (Sopran), Yajie Zhang (Alt), Sebastian Seibert (Tenor) und Yorck Felix Speer (Bass). Matthias Foremny führt sie alle und das Gewandhausorchester weich und dennoch mit sakraler Klarheit.
Flüchtige Licht-Räume, fließende Formationen
Dass Mario Schröder nicht nur ein Händchen für Handlungsballette hat, sondern auch für choreografierte Sakralwerke, hat er mehrfach bewiesen. Auch „Paradise Lost“ begeistert mit riesigen Ensembles, die sich fast unmerklich auflösen in individuelle Momente. Reihen bilden sich und Formationen im Kegel eines Lichtdreiecks, immer wieder fallen Tänzerinnen und Tänzer zu Boden, verharren in sich gekrümmt wie schlafende Kinder. Schwarze Anzüge tragen sie als homogene Masse, nacktbeinig und barfuß sind einige Tänzerinnen, allen voran Monica Barbotte als kleines Mädchen (Kostüme: Verena Hemmerlein).
Monica Barbotte als Mädchen. Foto: Ida Zenna
Beeindruckend auch das Lichtkonzept von Michael Röger, das flüchtige Inseln schafft; so wie die Neonröhren im Bühnenbild von Andreas Auerbach uns Räume andeuten, die wir womöglich doch nur imaginieren. Sichtlich bewegt jubelt das Publikum nach einem Abend, der uns auf uns selbst zurückwirft – und dennoch Hoffnung stiftet.