Björn SC Deigner lässt in seinem Stück „Zeit wie im Fieber“ Georg Büchners Sprache durch Stuttgart spazieren. Am Schauspiel Stuttgart begegnet sie einem König, einer Wutbürgerin und Butterbrezeln.
Aufrührerische Fantasien geistern durch Stuttgart und treffen dort, wer hätte das gedacht, auf Brezelbäcker, Wutbürger und solche, die sehr artig niemals ihre Kehrwoche versäumen. „Zeit wie im Fieber – Büchner-Schrapnell“ von Björn SC Deigner feierte am Samstag Premiere im Kammertheater des Stuttgarter Schauspiels: Ein paradoxes Stück, mit schwerem Text beladen und doch von Leichtigkeit, ernst und heiter, von gestern und heute.
Aufgeladen mit der Sprache Büchners
Zunächst einmal: Was darf man sich vorstellen, unter einem „Büchner-Schrapnell“? „Ein Schrapnell“ – das sagt das Lexikon – „ist eine Artilleriegranate, die mit Metallkugeln gefüllt ist. Diese werden kurz vor dem Ziel durch eine Treibladung nach vorn ausgestoßen und dem Ziel entgegengeschleudert.“ Björn SC Deigner, Hörspiel- und Theaterautor, sieht sein Stück also vielleicht als Waffe an, die er mit der Sprache Büchners aufgeladen hat und auf sein Publikum abfeuert. Ein Experiment, das zeigen soll, ob diese Munition 210 Jahre nach Georg Büchners Geburt noch zündet, trifft? Deigner hat seinem Büchner-Schrapnell allerdings auch Zitate von Rudi Dutschke, Ulrike Meinhof, Peter Schneider und Max Weber beigemischt – „und vielen anderen, die Unruhe umtreibt“.
Gabriele Hintermaier als Ärztlerin und Sylvana Krappatsch als Büchner-Figur Lena. Foto: Björn Klein
Und so kommt es, dass hier der Monolog eines Arbeiters, der glaubt, zufrieden sein zu können – „Ich bin in den Urlaub gefahren, ich habe geliebt und getrunken habe ich auch“ – in eine Betrachtung über das Glück der Ameisen mündet, in einen Satz von Dutschke, in Meinhofs Bemerkungen zur Brandstiftung. Dazwischen steht ein Satz, der sich in einem Brief findet, den Büchner schrieb, an Wilhelmine Jaeglé: „Ich bin wie ein Automat, die Seele ist mir genommen.“
Büchner-Motive für heute?
Das Stück also ist ein Konstrukt aus zahlreichen Exzerpten. Die Teile sind eingebunden in einen Text, der den Duktus von Georg Büchners Sprache aufnimmt, weiterspinnt, die Grenzen verwischt – wobei der Autor selbst betont, dass es ihm nicht darum gehe, Büchner fortzuschreiben, sondern mit den Motiven seiner Werke zu spielen – „sie für das Heute abzuklopfen.“
Dazu schickt er zwei Figuren los, deren Namen aus Büchners Dramen entnommen sind: Lena und Julie. Ihr Weg führt durch den Kessel – „Die Luft ist so abgestanden, als wär sie durch dutzend Lungen gegangen schon“ – hin zu den Rändern, auf die Halbhöhe, wo der Stuttgarter Geldadel wohnt. Die Kluft zwischen Arm und Reich, die größer wird, die Duldsamkeit des Volkes, seine Verstocktheit auch, sind Themen des Stückes. Lässt sich mit ihnen heute so umgehen, wie zu Büchners Zeit? Das ist eine offenkundige Frage. Dahinter aber entpuppt sich „Zeit wie im Fieber“ auch als ein Portrait der Stuttgarter Stadtgesellschaft, das manchmal skurril, geradezu possierlich wirkt, im Kern aber sehr böse ist. „Das Leben der wirklich reichen Leut“, heißt es da einmal, in volkstümlichem Ton, „ist für uns ein Geheimnis. Je näher man ihnen kommt, umso weniger sieht man ihr Geld.“
Revolution als Pferd
Dafür sieht man den Bäcker, der mit riesengroßen Laugenbrezeln hantiert, die er aber nicht hergeben will, wenn einer kommt und sagt: „Grüß Gott, ich bin hungrig!“ Der bodenständige Handwerker echauffiert sich lieber über einen Strafzettel und beginnt zu schwärmen von den guten alten Zeiten, in denen der Teig noch rein war und auch gut aufging. Ebenfalls sehr suspekt: jene „Ärztlerin“, die immer wieder mal vorüber geht, Trost spendet, von Unmittelbarkeit spricht und sich zuletzt als Esoterikerin mit rechtem Einschlag zu erkennen gibt: „Ja, wir werden diesem vergifteten Brunnen das Toxikum aussaugen. Der deutsche Mensch, das musst du wissen, hat eine Kraft in sich. Und wir, wir finden sie gemeinsam wieder.“
Die Revolution im Kleid des sogenannten talentierten Pferdes. Foto: Björn Klein
Ein König kommt zuerst und macht bald schon mit ausgetreckten Krallen Jagd auf die fragenden Wanderinnen. Der Nachbar, mit lockigem Bart und geringelter Zipfelmütze, ist auch kein wirklich Guter: Die Freiheit, das stellt er gleich einmal klar, endet für ihn dort, wo die Kehrwoche beginnt. Und er kennt jeden in der Straße. Dann die Wutbürgerin: „Auch du spürst es doch. Tief in dir: da merkst du, was das Menschsein ist.“ Doch sie will vor allem eines: Verrätern den Hals wegschneiden. Das Volk zuletzt, die Revolution, ein talentiertes Pferd, zusammengesetzt aus drei Schauspielern mit üppig wallender Haarpracht (Kostüme: Pascale Martin), redet hochtrabend und wird in Stücke gerissen.
Figurenallegorie
Zino Wey, der in enger Zusammenarbeit mit dem Autor Regie führte und die Bühne gestaltete, hat diese Bühne ganz einfach frei gehalten: Ein Bretterboden, weiter nichts, auf dem ganz links ein Piano steht, dahinter eine Windmaschine, dann ein schlichtes Gestell mit einem Transparent, zur Rechten eine gestreckte, stufenförmige Kiste aus hellem Holz. „Im Wind-Brand steht die Welt! Die Städte knistern“ – das ist auf dem Transparent zu lesen. Die Schauspieler stehen zu Beginn abseits der Bühne und scheinen sich zu unterhalten. Drei von ihnen tragen hellbraune Kostüme, zwei sind ganz in Schwarz gekleidet. Das sind Lena und Julie, dargestellt von Sylvana Krappatsch und Paula Skorpura. Gabriele Hintermaier, Marco Massafra und David Müller derweil werden im Laufe des Abends die Rollen häufig wechseln – sie spielen die zumeist allegorischen Figuren, denen Lena und Julie auf ihrer Wanderung begegnen, sind Pferd und Bäcker, König, Ärztlerin.
Einfach machen will Björn SC Deigner es den Zuschauern nicht. „Zeit wie im Fieber“ ist ein Stück, das komplex mit Sprache und Motiven umgeht. Aber es ist ein Stück, das dabei erstaunlich gut funktioniert. Das verdankt es zu keinem geringen Teil Sylvana Krappatsch und Paula Skorupa, die mit fragenden, erstaunten, nachdenklichen Gesichtern durchs Stuttgarter Pandämonium schreiten. „Die ganze Welt“, sagt dazu eine Stimme aus dem Off, „gerade wie ein wild losgerissener Zirkus. Es schlägt laut um sich, kein Erbarmen, kein Versteck.“ Sie gehört Harald Schmidt, dem Entertainer, der dieser Stadt immer wieder gerne einen Besuch abstattet.
Paula Skorupa (Julie), dahinter: Marco Massafra, David Müller, Gabriele Hintermaier, Sylvana Krappatsch (Lena). Foto: Björn Klein
Wert der Unzufriedenheit
Auch der Teufel, den Lena und Julie schließlich erblicken, im lustigen Weinberghäuschen, zwischen den Reben, am Tisch mit den feisten Gesichtern, ist nur ein poetisches Bild. Einfache Antworten kann es nicht geben, es bleibt die Unzufriedenheit als Wert: „Irren ist keine Sünde: Es ist der Gleichmut, der alles zuschanden gehen lässt.“
„Wie hält man das denn aus, einfach nichts zu tun“, fragt Lena Julie in einer Szene. Beide versuchen es, sie erstarren, die eine sitzend, die andere im Stand, für lange Sekunden, für eine ganze Schweigeminute vielleicht, in der das Publikum zu schmunzeln beginnt. In dieser Zeit, auf wundersame Weise, zieht draußen der Klang einer Sirene vorüber: Plötzlich ist die Stadt im Kessel wirklich ganz da, auf dem Theater.