Foto: v.l. Steffen Höld, Michael Goldberg © Sandra Then
Text:Anne Fritsch, am 10. November 2023
Der israelisch-deutsche Regisseur Noam Brusilovsky untersucht in seinem Rechercheprojekt „Mitläufer“ die NS-Vergangenheit des Bayerischen Staatsschauspiels und legt die Mechanismen offen, die Diktatur und Unterdrückung möglich machen.
Der Nationalsozialismus forderte auch die Kunst in Deutschland heraus, Schauspieler:innen, Schriftsteller:innen und auch Theaterintendant:innen (wobei das zu dieser Zeit wohl beinahe ausschließlich Männer waren). Sie standen vor der Entscheidung, ihren Beruf auszuüben und sich in den Dienst des Nationalsozialismus zu stellen – oder zu verstummen, in die innere Emigration oder ins Exil zu flüchten. Nach Kriegsende war hier wie anderswo das erklärte Ziel, möglichst schnell einen Neuanfang zu starten, nach vorne zu blicken anstatt nach hinten. Genau das tut das Residenztheater in München jetzt, beinahe 80 Jahre nach Kriegsende wagt es einen Blick zurück, auf den Tag genau 85 Jahre nach der Reichspogromnacht, dem Beginn der Gewalteskalation gegen die jüdische Bevölkerung, der Shoah.
Der israelisch-deutsche Regisseur Noam Brusilovsky scheut sich nicht vor schwierigen Themen. In seiner Solo-Performance „Orchiektomie rechts“, die unter anderem zum Radikal jung-Festival 2018 eingeladen wurde, beschäftigte er sich mit seiner Hodenkrebs-Erkrankung. Für „Adolf Eichmann: Ein Hörprozess“ wurden er und Ofer Waldmann 2021 mit dem Deutschen Hörspielpreis der ARD ausgezeichnet. Und nun beschäftigt er sich in seinem Rechercheprojekt „Mitläufer“ mit den Biographien der Intendanten des Residenztheaters nach Hitlers Machtergreifung.
Die langen Schatten der Vergangenheit
Im Marstall hat Magdalena Emmerig einen Raum geschaffen, der die beiden Pole der Vergangenheitsaufarbeitung gegenüberstellt: links eine Theaterpforte mit Eingang zum Residenztheater, rechts ein Tisch für das Spruchkammerverfahren für die sogenannte Entnazifizierung. Über die gesamte Breite stehen vorne die filigranen Buchstaben „BAYERISCHES STAATSSCHAUSPIEL“, die lange Schatten in den Raum werfen – wie die Nazi-Ideologie. Nicht in diesem Theater zum Glück, wohl aber im gerade wieder auflebenden (oder nie überwundenen) Antisemitismus in Teilen der Gesellschaft.
Steffen Höld spielt in dieser Kulisse den Regisseur Oskar Walleck, der von Joseph Goebbels 1934 zum Intendanten ernannt wurde und sich seinem Entnazifizierungs-Verfahren stellen muss. Dieser Walleck sagt Sätze wie „Ich habe mit der ganzen SS nichts gemein gehabt, als dass ich einfach Mitglied war“ und scheint sie selbst zu glauben. Alles im Dienste der Kunst, die ihm über alles ging. In einer intensiven Szene bezieht der Angeklagte Walleck Stellung zu den einstigen Äußerungen des Intendanten Walleck. Höld springt in der Zeit vor und zurück, verdreht sich selbst das Wort im Mund und verrenkt sich großartig, um sich nachträglich reinzuwaschen. Walleck, der einst ein „Theater des Volkes“ aus dem „Geist der Kameradschaft durch den Führergeist“ beschwor, will nun vom Nationalsozialismus „überhaupt nichts“ gewusst haben. Er scheut sich nicht, sich selbst zum Widerstandskämpfer mittels der Kunst zu stilisieren.
v.l. Steffen Höld, Michael Goldberg, Max Mayer, Claudia Golling © Sandra Then
Auf ihn folgte 1938 der Schauspieler Alexander Golling, gespielt von Michael Goldberg. Dieser Golling pflegte unter anderem eine intensive Freundschaft mit dem Gauleiter Wagner, aber auch das natürlich nur im Sinne des Theaters. Der dritte im Bunde, der Autor und Chefdramaturg Curt Langenbeck, wird selbst nicht vor die Spruchkammer berufen, betrachtet die Verfahren gegen die beiden anderen aber ängstlich. Schließlich hat auch er nicht nur mit seinem Vortrag „Die Wiedergeburt des Dramas aus dem Geist der Zeit“ 1939 nationalsozialistisches Gedankengut verbreitet. Max Mayer spielt ihn als Mann im Hintergrund, der sich in die Pförtnerloge zurückzieht, als es den anderen an den Kragen geht.
Schuldig durch Schweigen
Diesen drei Männern steht eine Frau gegenüber, Claudia Golling, die Tochter von Alexander Golling. Als das Residenztheater sich vor einem Jahr bei ihr meldete, sagte sie ihre Teilnahme an diesem Projekt zu. Sie erzählt von der großen Liebe zu ihrem Vater, dem „Papi“, von einer Kindheit, in der das Thema NS-Vergangenheit gut verdrängt wurde. Es ist beeindruckend, wie sie sich dem stellt, am Ende glasklar formuliert: „Mein Vater hat sich schuldig gemacht, zusammen mit allen, die sich in gleicher oder ähnlicher Position als Werbeträger und Sympathieträger vor den Karren einer menschenverachtenden, verbrecherischen Diktatur spannen ließen.“
Sie alle waren keine radikalen Nazis. Wohl aber selbstverliebte Gestalten, die wegsahen, sich alles zu ihrem Vorteil zurecht drehten. Erst kommt das Ego, dann kommt die Moral. Brusilovsky ist ein differenzierter Abend gelungen, der nicht den Fehler begeht, Schwarz-Weiß zu malen und Dinge zu vereinfachen. Im Gegenteil arbeitet er Widersprüche in den Biographien heraus. So hat sich anscheinend selbst ein SS-Mann wie Walleck auch mal für jüdische Schauspieler:innen eingesetzt. Vor allem aber wird deutlich, dass es eben genau die vielen Grauschattierungen waren, die eine Bewegung wie den Nationalsozialismus erst so gefährlich und wirkungsvoll machte. Ohne all diese Mitläufer, deren Wegsehen und Schweigen all das Grauen erst möglich machte, hätte es keine Shoah gegeben. Die Premiere fand nicht zufällig am 9. November statt, dem Jahrestag der Reichspogromnacht. In diesem Jahr ist es leider aktueller und wichtiger denn je, sich deutlich zu positionieren und zu sagen: Nie wieder. Oder mit den Worten von Claudia Golling: „Die Vergangenheit und die Geschichte meines Vaters kann ich nicht ändern, aber wir dürfen nicht aufhören, an sie als warnendes Beispiel zu erinnern.“