Foto: Mengqi Zhang als Calaf in "Turning Turandot" © Clemens Heidrich
Text:Andreas Falentin, am 5. November 2023
Wichtiger Überschreibungs-Versuch an der Staatsoper Hannover: „Turning Turandot“ dreht nicht nur die Stimmfächer um, sie befragt auch Puccinis „Turandot“ aus heutiger Sicht – und das mit Spaß und Gänsehaut.
„Turning Turandot“ ist durchaus wörtlich gemeint. Vieles erscheint sozusagen umgekehrt. Zum Beispiel die Stimmfächer: Wie klingt „Nessun Dorma“ von einer Sopranstimme, fragt man sich, wenn man den Besetzungszettel liest. Turandot ist Bariton, Liu Tenor, der Bass Timur, der Vater des Helden, singt Koloratur-Sopran. Auch die Stückfassung ist sehr anders. Der Kaiser fehlt, die Pavillon-Szene von Ping, Pang und Pong am Anfang des zweiten Aktes ist gestrichen, der Chor fehlt, wird durch Ping, Pang und Pong ersetzt, wo es musikalisch nicht anders geht. In den Stoff eingeführt wird mit einer schriftlichen, projizierten Einführung in die Handlung, knapp und ein bisschen tendenziös (immer wieder steht da „Exilant“, das stimmt zwar, aber ist es wichtig für eine knappe Einführung?).
Die Musik hat Jacopo Salvatori neu arrangiert für ein Kammerorchester mit elektronischem Klavier, Streichern und viel Percussion, ohne Blech. Immer wieder gibt es, vor allem am Beginn der Szenen, neue, unabhängige Musikelemente, die Richard Schwennike, der musikalische Leiter, transparent und dynamisch mit dem Puccini-Material zusammenführt. Die Gesangslinie von Puccini aber wird nicht angetastet. Sie wirkt strahlend und kraftvoll, obwohl die Stimmen elektronisch verstärkt sind.
Alles ereignet sich schnell, vor allem, weil man ja nicht mehr verstehen muss, worum es geht. Die Bühne von Eva G. Alonso ist schlicht, Blumen überall, in der Mitte ein Podest, darauf ein Objekt, das mal Spiegel, mal Glasscheibe ist. Dahinter erscheint Turandot. Außergewöhnlich sind die Kostüme von Mascha Mihoa Bischoff, sehr bunt, mit Puscheln an den Ohren für alle, grell geschminkt, aber ohne Chinoisie-Kitsch. Die Choreografien von der Autorin Olivia Hyunsin Kim sind comic-haft und witzig, treiben die Klischees und ihre Brechung weiter.
Spaß mit den unwirklichen Figuren
Man hat Spaß mit diesen unwirklichen, aber sehr reellen Figuren. Mit der dynamisch und schlank singenden Mengqi Zhang, die immer sympathisch bleibt. Mit dem Tenor Pawel Brozek als Liu, der wirklich ein verlorener Held ist. Mit Seungwoo Sun als fast noch unsicherer Turandot. Mit Carmen Fuggis als zickige und gefühlige Timur – und als Pong. Der Rollentausch auf der offenen Bühne gelingt mehrfach problemlos und augenzwinkernd. Luvuyo Mbundu und Lluís Calvet i Pey ergänzen als Ping und Pang. Abgesehen von der erfahrenen Carmen Fuggiss sind das sehr junge Sängerinnen und Sänger. Stimmlich überzeugen sie alle. Die Frische, die Abwesenheit von Routine, die Spontaneität auch im Gesang sind wunderbar.
Die tote Liu. Foto: Clemens Heidrich
So geht das Spiel seinen Gang, schnell, dynamisch, beim Rätselraten stockt das Tempo, wie bei der Ur-Turandot auch. Es gibt keine Spannung, wir wissen ja, dass Calaf gewinnt. „Nessun dorma“ macht Gänsehaut, auch mit einer Sopranstimme, zumindest bei Mengqi Zhang. Wie immer nimmt das Tempo mit der Wiederkehr von Liu wieder zu. Aber heute stehen wir sehr distanziert davor. Die Zweifel sind gesät. Das hat die Produktion geschafft, durch ihren Willen zur Distanz. Das Chaos, das hier entsteht, der eigentlich komplett unnötige Selbstmord von Liu, das unglaubwürdige Liebespaar, das fasst uns heute mehr an. Beim Kuss mit Turandot würgt Calaf, würgt Mengqi Zhang das Spiel ab. Jetzt wird gesprochen. Einfach so.
Gespräch am Ende
Warum spielen wir heute „Turandot“? Das Ensemble erklärt, warum es das macht, was es macht. Macho und Machtstrukturen, Genderrollen, Rassismus, Kolonialismus. Und natürlich, davon sagen sie nichts, die Repertoirestruktur der großen Opernhäuser. Oper kann so anders sein, behaupten sie. Und sie singen „Nessun Dorma“ im Ensemble. Wieder Gänsehaut. Aber mit neuem Text, deutsch und witzig-kritisch. Das bricht ab. Leider. Nebel übergießt die Bühne.
Das alles könnte auch blöd sein. Das ist ein sehr schmaler Grat. Schließlich wissen wir das alles. Aber das Publikum braucht diese offenen Hinweise, die Reaktionen zeigen es. Und vor allem ist diese Aufführung einfach gut, so ausgeschlafen, so frisch, so beieinander. Das junge Ensemble tritt auf wie ein Team, so beglaubigt sie sowohl die Diagnose als auch den Zwiespalt. Denn „Turning Turandot“ – präsentiert auf der kleinen, ausverkauften Ballhof-Eins-Bühne – wird nicht dazu führen, das Stücke wie „Turandot“ (oder „Butterfly“ oder…) nicht mehr gespielt werden. Oder?