Foto: „Ajax“ mit Oliver Simon (Mitte) und Christine Hoppe (vorne) © Sebatian Hoppe
Text:Detlev Baur, am 29. Oktober 2023
Thomas Freyer hat mit „Ajax“ eine Antikenüberschreibung vorgelegt, die trojanischen Krieg und gegenwärtige Verunsicherungen in einen Dialog miteinander bringt. Jan Gehlers Uraufführung am Staatsschauspiel Dresden macht daraus ein packendes Spiel um desorientierte Männer und zerstörte Familien.
Am Ende sind die Frauen ins Parkett abgegangen, die Mutter von heute (Christine Hoppe) und Tekmessa (Fanny Staffa), Sklavin und gleichzeitig Gattin des griechischen Helden Ajax; die beiden sprechen freundlich miteinander und können sich doch nicht verstehen, die eine entflieht der durch die Prepper-Wahnideen und Verschwörungstheorien des Ehemanns auseinandergebrochenen Familie, die andere kommt als dem Trojanischen Krieg Entflohene an. Die zwei Frauen entziehen sich damit dem von Männern geprägten Bühnenspiel.
Begegenung von antiken Gestalten und gegenwärtigen Figuren
Thomas Freyers Auftragswerk des Staatsschauspiels Dresden ist eine „Überschreibung“ der „Ilias“ und der Sophokles-Tragödie „Ajas“, in der einer der stärksten griechischen Helden ausrastet, nachdem er eine ihm seiner Meinung nach zwingend zustehende Ehrengabe nicht erhält. Der Wütende meint Odysseus zu morden und hat doch nur einen Schafsbock zerfleischt, danach ist die Ehre des Helden umso irreparabler zerstört. Dieses Kriegsdrama verbindet Freyer mit einer weniger dramatischen, aber ebenso von einem selbstzerstörerischen Mann handelnden Geschichte von heute: ein Mann sorgt sich angesichts des unbestimmbaren fernen Krieges zunehmend um die Sicherheit seiner Familie, legt Vorräte an, baut einen Bunker im Garten und identifiziert sich mit der Titelfigur, dem antiken Verlierer im Lager der Gewinner.
Die Verknüpfung der Motive ist in Freyers „Ajax“ so gewagt wie gelungen. Der Autor vermeidet einfache Gleichungen, unterstellt nicht, dass das Leid der Menschen im medial wahrgenommenen Krieg dem der sich im Krieg Befindenden gleiche. Das Stück ist eben nicht nur eine Überschreibung des alten Stoffes, sondern dient der aufschlussreichen Kollision menschlicher, vor allem männlicher, Verhaltensmuster sowie Familien- wie Generationenkonstellationen aus unterschiedlichen Zeiten. Wohltuend sind die genaue Kenntnis der antiken Vorlagen, die sprachliche Präzision der Dialoge und die so entspannte wie entschiedene Verknüpfung der Zeiten.
Verbindender Gazevorhang
Die Figurenebenen des Textes sind anfangs noch getrennt, verbinden sich jedoch im Lauf des Dramas zunehmend. Jan Gehlers Uraufführung im Kleinen Haus zeigt zunächst hinter einem Gazevorhang (Bühne: Sabrina Rox) eine ängstlich um Sicherheit bemühte Kleinfamilie vorne und antike Schatten von hinten auf den Trennvorhang geworfen. Dem Sohn kommt darin immer wieder die zentrale Rolle des Erzählers zu, ein ferner zehnjähriger Krieg begleitet seine Entwicklung, sein Abdriften in Sucht und Distanz zur Familie. Die ruhige Intensität von Jakob Fließ passt bestens zur Erzählerfigur, die zunehmend zum Opfer des Geschehens wird – und zum Dialogpartner. Er kommt mit seinem quasi brüderlichen Gegenüber Eurysakes dem Sohn von Ajax und Tekmessa, ins Gespräch. Kriemhild Hamann spielt den kriegslüsternen Heldensohn überzeugend als jemanden, der die kampfbetonte Männlichkeit noch sucht und schließlich den Vater zum Selbstmord drängt.
In der Rolle des Ajax wie des Vaters verbindet Oliver Simon die Zeiten und die zentralen Männerfiguren. Immer stärker tritt in den knapp zwei Stunden der jenseits des Kampfes hilflose Held aus der Antike in den Vordergrund, wo sich auch der desorientierte Familienvater in Kampfmontur zeigt (Kostüme: Katja Strohschneider). Es gelingt dem sechsköpfigen Ensemble – komplettiert durch Holger Hübner als Teukros, wie sein Bruder Ajax gefangen in militärischen Denkschablonen – die ungleichen Schicksale und ihre Verbindungen nicht nur zu etablieren, sondern auch bewegend in Szene zu setzen.
Nicht nur am Ende bleibt fraglich, ob man sich überhaupt versteht; teils schnurren die Dialoge der Familienfiguren aus Gegenwart und Überlieferung isoliert voneinander und doch ineinander verwoben ab. Dabei spielen die fernen, drohend aktuellen Kriege hinein, ohne dass sie genannt werden müssten. Freyer entwirft ein komplexes und zugleich schlagendes Figurentableau, ein antikes Gegenwartsstück. Die Uraufführungsinszenierung macht daraus ergreifendes Theater.