Foto: Das Ensemble des Staatsballetts Berlin kreiert einen beeindruckenden Tanzabend. © Serghei Gherciu
Text:Vesna Mlakar, am 21. Oktober 2023
Mit „Bovary“ ist Christian Spuck ein eindrucksvoller Spielzeitbeginn an der Deutschen Oper Berlin gelungen. Gekonnt agierende Interpreten tragen diese Adaption von Gustave Flauberts Roman.
Der Putz ist abgeblättert. Hohe Mauern, die ihre besten Zeiten längst hinter sich haben, säumen ein Innen und Außen. Entlang der Wände, auf Stühlen, stehen regungslos schwarz verschleierte Witwen. Dazwischen erinnern Inseln von getreideartigem Gestrüpp an Felder oder das struppige Umland eines Gehöfts. Die im Verfall befindliche Tristesse eines gescheiterten Lebenstraums lässt sich in dem Bühnenbild von Rufus Didwiszus und Emma Ryotts Kostümen zu Christian Spucks „Bovary“ vom ersten Augenblick an ablesen.
Eine seltene Adaption
Dieses „Erzählballett“ nach dem Roman von Gustave Flaubert – einem bei seiner Erscheinung 1856 skandalauslösenden Klassiker der Weltliteratur – ist Spucks erste, großartig gelungene Kreation als neuer Intendant des Staatsballetts Berlin. Sein von Arte Concert mitgeschnittener und live ausgestrahlter Abendfüller schlägt beim Premierenpublikum in der Deutschen Oper zu Recht voll ein. Dies aber nicht etwa nur, weil hier ein Sujet per se mitreißt oder gefühlsmäßig aufwühlt. Dazu ist Flauberts Plot, der sprachlich zu fesseln vermag, als Adaption für die Bühne jedoch bislang eher selten umgesetzt wurde, einfach zu sperrig.
Die Mehrheit des Ensembles kann sich an diesem Abend auf der Bühne präsentieren. Foto: Serghei Gherciu
Immer wieder schieben sich leger gekleidete Interpreten – körperlich famos agierende Männer, Frauen und Paare in tänzerisch komplett zeitgenössischem Duktus – ins Blickfeld. Vergleichbar inneren Visionen, Wünschen oder Gefühlen überlagern sie ein Personenarsenal, das ab und an wie vom Choreografen in einem Gemälde festgenagelt wirkt. Aus diesem überlagernden Energiefluss ergeben sich Verschränkungen, die dem momentanen Befindlichkeitszustand der eigentlichen Rollenträger zusätzlichen Ausdruck verleihen. Dennoch wird eine Ballerina allein zur tragenden Kraft des gesamten Abends: Solistin Weronika Frodyma, die eine darstellerisch bisweilen perfekt zurückgenommene und ganz auf sich selbst fokussierte Emma Bovary verkörpert.
Vergebliche Suche
Als Interpretin leistet sie Unglaubliches. Aus dem Orchestergraben unter der Leitung von Jonathan Stockhammer kontrastreich unterstützt durch das musikalische Kaleidoskop aus Werken von Camille Saint-Saëns, Thierry Pécou, Arvo Pärt, György Ligeti. Mit dem Song „She was“ der Sängerin Camille (Dalmais) steigert sich Frodyma schrittweise enorm subtil von einer vermeintlich zufriedenen jungmädchenhaften Braut hinein in die Rolle einer beständig vergeblich nach Erfüllung Suchenden.
Fast permanent auf der Bühne präsent zeichnet sie eindringlich und höchst eindrucksvoll die Entwicklung einer Frau nach. Diese Frau ist zum Schluss – getriebenen von ihrem Zwang, sich aus provinzieller Beengtheit befreien zu wollen – durch eine Überdosis Arsen aus dem Leben scheidet. Das weiße Pulver schaufelt sich Frodyma imposant staubend aus einem riesigen Apothekerglas, das plötzlich im Raum steht, Hand für Hand in den Mund. Ihr qualvolles Sterben löst einen finalen Pas de deux mit ihrem Mann aus – mit berührenden Höhepunkten. Der Schlussvorhang fällt, noch ehe Emma tot vom Stuhl zu Boden kippt.
Weronika Frodyma als Emme Bovary konsumiert am Boden ein verhängnisvolles Pulver. Foto: Serghei Gherciu
Ihre Amouren mit Léon (Alexander Cagnat) und Rodolphe (David Soares) zuvor haben Wunden gerissen und waren schnell verglimmt. Bei Spuck sind das szenisch perfekt gebaute Leuchtfeuer – mehr schlichte Verführung und ein bedenkenloses, sich zunehmend einseitig immer hungrigeres Hingeben an den Partner denn echte Leidenschaft.
Gelungener Spielzeitbeginn
Spucks „Bovary“ geht als Saisonauftakt ohne überraschende Brüche über die Bühne. Mit insgesamt 79 Tänzerinnen und Tänzern – darunter seit Saisonbeginn 24 neue Ensemble-Mitglieder – leitet er als Choreograf nun Deutschlands größte Ballettkompanie. Anlaufschwierigkeiten sind bei dieser Uraufführung absolut keine auszumachen. Gleich einem raffinierten Räderwerk spielt sich auf weiter Szene ein tolles, atmosphärisch transparentes Persönlichkeitsdrama ab. Und das, obwohl – oder gerade weil – Spuck in „Bovary“ eine Menge an Roman-Motiven ausklammert. Über zwei Akte hinweg geht es vor allem um den Konflikt der titelgebenden Figur mit sich selbst. Aus dem Off erklingende Zitate der Romanvorlage verdeutlichen gerade dieses.
Schon im Prolog hängen Tod und Verhängnis in der Luft. Das statische, die Hauptfiguren einführende Bild beinhaltet in Form einer fotografischen Erinnerung bereits alles, was über zwei Akte hinweg folgt. Im Schlussbild wird fast dieselbe Konstellation noch einmal aufgegriffen. Dazwischen – trotz einiger Längen: viel tiefgründige Beklemmung. Eigentlich seltsam, für ein hoffnungsvolles Versprechen auf die Zukunft einer Kompanie, die gleichwohl einen fulminanten Start hingelegt hat.