Foto: Alex und die russischen Tänzerinnen in „Ха́та – Zuhause“ an den Kammerspielen München © Maurice Korbel
Text:Silja Vinzens, am 14. Oktober 2023
Die Münchner Kammerspiele bringen in „Хáта – Zuhause“ Menschen aus der Ukraine und Russland auf die Bühne, wo sie über den Krieg und Gedanken an die Heimat reden. Eine Versöhnung gibt es nicht, aber Momente, die berühren und einen neuen Blick auf den Konflikt ermöglichen.
Er will Essen und Trinken für seine Kameraden holen. Doch auf dem Rückweg kommt der Angriff aus dem Nichts. „Ich dachte, es sei mein Ende“, sagt der junge Mann im Rollstuhl. Er ist Ukrainer – einer von sechs, die in „Хáта – Zuhause“ auf der Leinwand zu Wort kommen. Die litauische Regisseurin Kamilė Gudmonaitė gibt mit ihrem neuen Stück an den Münchner Kammerspielen dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine ein Gesicht. Eines, das schmerzverzerrt ist und mit seinen Worten eine heftige Beklommenheit zurücklässt. Während der erste Teil von Ukrainerinnen und Ukrainern in Videointerviews und als Chor auf der Bühne gestaltet wird, gibt der zweite Teil Russinnen und Russen auf der Leinwand und live als Tanzgruppe eine Bühne.
Markerschütternden Gesängen der Ukrainerinnen und Ukrainer folgen in den Kammerspielen München die wie Aufziehpuppen tanzenden Russinnen. Dazwischen sieht der Zuschauer die Interviews auf der Video-Leinwand, wie etwa mit dem jungen ukrainischen Soldaten. Er hatte sich ein Leben in Nizza aufgebaut, hatte eine Wohnung, einen Job, eine Freundin. Dann begann der Krieg in seiner Heimat. „Und während alle aus dem Land heraus wollten, war ich in entgegengesetzter Richtung unterwegs“, schildert er. Seine Erzählungen gehören zu denen, die den stärksten Eindruck hinterlassen an diesem Abend.
Kraftvoll singen Menschen aus der Ukraine in den Kammerspielen München. Foto: Maurice Korbel
Traumata eines Krieges und ihre Kinder
Seine Beschreibung, wie er als Soldat einer Familie begegnete, die seit zwei Monaten in ihrem Keller lebt, geht durch Mark und Bein. Wie er dem fünfjährigen Jungen Schokolade anbieten wollte und wie die Mutter der Familie ihn darum bat, er solle ihren Sohn bloß nicht anfassen. Es sei ganz gleich, ob er Ukrainer oder Russe sei, denn für das Kind sei klar: „Immer wenn Soldaten kommen, dann explodiert etwas“. Der junge Mann im Rollstuhl hält inne, dann fragt er in die schwarze Leere des Theatersaals: „Was hat dieses Kind getan? Es wird diesen Krieg nie vergessen, es wird nie ein normales Leben führen können“.
„Oh du fröhlicher Abend, du fröhlicher“, singen die Frauen und Männer auf der Bühne in München. Der Gesang kommt mitten aus der Brust – gedrückt, laut, in den Ohren nahezu schmerzend. Am Ende des ersten Teils wird er zum Geschrei der Wut. Eine Sängerin hat ihren Overall geöffnet, darunter wird ihr T-Shirt mit der Aufschrift „Russia is a terrorist state“ sichtbar. Der junge Soldat erscheint wieder auf der Leinwand. „Ich wünsche mir Frieden für alle Menschen und Länder“, sagt er. Und er wünsche sich inneren Frieden. „Hast du den?“, fragt eine Stimme aus dem Off. Er senkt den Blick: „Nein“, lautet seine Antwort. „Aber man kann ja hoffen“, fügt er dann mit einem sanften Lächeln an.
Der junge ukrainische Soldat erklärt, was Ха́та bedeutet. Foto: Maurice Korbel
Theater bringt Russland und Ukraine nicht zusammen
Der zweite Teil beginnt: Russische Tänzerinnen betreten die nun in grell-weißes Licht getauchte Bühne. Während der gesamten Probenarbeit sind sich die am Stück beteiligten Ukrainer und Russen nicht begegnet. Das Stück bleibt also eingeteilt in zwei Bilder, die nebeneinander stehen, deren Protagonistinnen und Protagonisten jedoch nicht zusammengeführt wurden. „Das wäre aktuell unmöglich für traumatisierte Kriegsflüchtige aus der Ukraine“, heißt es im Beiblatt der Münchner Kammerspiele.
„Die Propaganda ist die eigentliche Waffe des 21. Jahrhunderts“, sagt Alex im Interview. Der zweite Teil beginnt mit zahlreichen Schuldbekundungen der Russinnen und Russen. Das Gefühl der Kollektivschuld schwingt greifbar und unerträglich durch den Raum. Eine Frau berichtet, sie habe eigentlich georgische und ukrainische Wurzeln – vor dem Krieg in Georgien flohen ihre Eltern jedoch, als sie sehr klein war, nach Moskau. „Es wäre so einfach zu sagen, ich sei keine Russin“, sagt sie und bricht in Tränen aus. „Aber es gibt doch auch wundervolle Menschen in Russland.“ Ihre Worte machen das Herz ebenso schwer wie die Schilderungen des ukrainischen Soldaten im ersten Teil. Man müsse doch sehen, dass überall auf der Welt auch Menschlichkeit zu finden sei, fügt die Frau an.
Der zweite Teil von „Ха́та“ in München ist russischen Menschen gewidmet, die viel tanzen. Foto: Maurice Korbel
Schimmer von Hoffnung in München
Im Kontrast dazu tanzen die russischen Frauen auf der Bühne in weit schwingenden Röcken und sich synchron drehend im Kreis. Es scheint fast, als würde eine Schiene unter ihren Füßen sie bewegen. Die Bühnenszene bestätigt vieles, was amerikanische Filme schon zahlreich gezeigt haben. Eine kalte, auf Drill konzentrierte Kultur. Man kommt nicht um die Frage herum, ob dies wirklich das einzige ist, was Russland ausmacht.
Umso erlösender kommt der Schluss in München daher, als Alex die Bühne betritt und nach einem kleinen Poetry-Slam über das Vergessen anfängt, wild zu tanzen. Die Tänzerinnen folgen seinem Beispiel. Doch der Hoffnungsschimmer ist nur von kurzer Dauer. „Man darf nicht vergessen, dass die Ukraine ihren Landsleuten in den vergangenen Jahrzehnten im Kopf viel Freiheit erlaubt hat. In Russland gibt es das schon so lange nicht mehr“, sagt eine der russischen Stimmen im Interview. Hoffnung? „Nein, die habe ich nicht mehr“, antwortet eine andere Russin.
Kamilė Gudmonaitė ist es mit „Хáта“ gelungen, die vielschichtigen Probleme zwischen der Ukraine und Russland offenzulegen. Das Publikum wird Zeuge zahlreicher offener und schrecklicher Wunden. Das schmerzt beim Zusehen und hinterlässt ohne Zweifel das Gefühl der absoluten Ohnmacht. Eine Brücke zwischen Ukrainern und Russen schlägt „Хáта“ nicht. Es wäre wohl auch – ganz abgesehen davon, dass es Traumata bei Beteiligten aufgerissen hätte – zu kitschig, zu weit weg von der bitteren Realität. Beide Gruppen sind sich so fern in dem, was sie erlebt haben und erleben. Und doch kommt der Zuschauende nicht umhin zu spüren, dass sie in ihrem tief verwurzelten Schmerz nah beieinander sind. Bei aller Betroffenheit, mit der man den Theatersaal am Ende verlässt, bleibt daher eine drängende Frage, ein sich manifestierender und verzweifelter Gedanke hängen: Wie soll die Kluft zwischen den einzelnen Menschen je überwunden werden, wenn nicht ohne einen Dialog?