Foto: Frida Österberg in "Romeo und Julia" am Staatstheater Karlsruhe © Thorsten Wulff
Text:Manfred Jahnke, am 1. Oktober 2023
In ihrer Interpretation des beliebten Klassikers „Romeo und Julia“ am Badischen Staatstheater Karlsruhe verbindet Anna Bergmann gleich mehrere Ideen: Sie vertauscht die Reihenfolge der Akte. Sie arbeitet mit unterschiedlichen Übersetzungen und Epochen. Und sie zeigt die Geschichte aus Julias Sicht.
Kann man „Romeo und Julia“ vom Ende aus erzählen? Vom Tod zweier Liebender zurück zur ersten Begegnung? Hätte es Möglichkeiten auf diesem Weg gegeben, einen anderen Ausgang aus einer unmöglichen Liebe zu finden?
Anna Bergmann entwickelt am Staatstheater Karlsruhe für ihre Inszenierung des Shakespeare-Klassikers eine starke Konzeption: Nicht nur, dass sie für jeden Akt eine andere Zeitepoche festlegt – vom Barock bis heute – sondern jeder Akt hat auch seinen eigenen Übersetzer. Für Akt 5 (hier der erste Akt) die klassische Schlegel-Übersetzung, Akt 2 die von Frank Günther, im Akt 3 die Bearbeitung von Frank-Patrick Steckel. Wenn es um die Annäherung an die Gegenwart geht, wird im 4. (dem eigentlichen zweiten Akt) die Übersetzung von Marius von Mayenburg und für die Gegenwart im ersten/letzten Akt die Übersetzung von Ulrike Syha benutzt. Anna Bergmann versucht herauszufinden, wie sich die Handlung aus der Perspektive der Julia anfühlt.
Shakespeare-Klassiker aus Julias Sicht
Diese Fragestellung verschärft Bergmann, indem sie die Capulets (einschließlich Tybalt) weiblich besetzt und die Montagues männlich. Dabei wirkt im Hintergrund die Beziehung zwischen dem alten Montague, von Timo Tank aasig mit starken Gesten der Männlichkeit herausgespielt, und der Gräfin Capulet, die in der Darstellung von Antonia Mohr zur herrischen Figur wird, die auch gegen die Tochter zu wüten vermag.
Allerdings interessiert sich Bergmann weniger für psychologische Feindifferenzierungen, sondern eher dafür, die Handlung in einer musicalhaften Struktur einzubinden. Mit Clemens Rynkowski und seiner Band hat sie einen kongenialen Mitstreiter gefunden. Die Gefühlswelt der Figuren wird in den von ihm komponierten und getexteten Songs festgehalten. Leidenschaft, Verzweiflung, aber auch eine starke Lebenslust kommt in den Liedern zum Ausdruck.
„Romeo und Julia“ am Staatstheater Karlsruhe spielt mit Zeitkonzepten. Foto: Thorsten Wulff
Theater mit Video
Ein weiteres wichtiges Medium, das die Inszenierung nutzt, ist das Video (Sophie Lux): Mit dem kommt die „Außenwelt“ in die Handlung, beispielsweise wie Corinna Harfouch als Fürstinmit ruhiger Stimme die Ruhe in Verona wieder herzustellen versucht. Aber noch mehr spiegelt sich das Geschehen im Video, das meistens mit Live-Kameras eingefangen wird. Übergroß werden die Bilder an die Wabenwand, die die Bühne beherrscht, projiziert. Wenn Julia nicht auf der Bühne agiert, ist sie im Video präsent: Sie beherrscht die Szene, auch, wenn sie gar nicht eingreift. Bühnenbildner Jo Schramm hat für die Bühne, deren Boden voller Wasserschlieren ist, diese Wabenwand geschaffen, die sich bewegen lässt. Auf halber Höhe gibt es eine Spielfläche, die hauptsächlich von den Capulets bespielt wird.
Die Inszenierung am Staatstheater Karlsruhe überzeugt mit starkem Ensemble. Foto: Thorsten Wulff
Starke Schauspielerinnen in Karlsruhe
Die Karlsruher Inszenierung wird stark durch die Regiekonzeption geprägt. Aber diese würde in sich zusammenfallen, wenn da nicht Frida Österberg als Julia wäre, eine Spielerin von starker Ausstrahlung. Ihr fliegt alle Empathie zu, obwohl sie nicht das Rollenbild einer romantisierenden 14-Jährigen vorführt, sondern eine von der Umwelt bedrängten jungen Frau, die für ihre Liebe kämpft.
Andrej Agranovski zeigt seinen Romeo nicht als einen, der mit dem Kopf durch die Wand will, auch nicht als bloß Leidenden, sondern als jemanden, der um sein Glück kämpft. Für die Kämpfe zwischen Tybalt (Anne Müller), Mercutio (Leonhard Dick) und Benvolio (Jannik Görger) hat Annette Bauer eine eindringliche Choreografie geschaffen. Da wird nicht nur mit Schwertern gekämpft, sondern auch zur Pistole gegriffen – dem Jahrhundert entsprechend, in dem der jeweilige Akt angesiedelt ist. Jannek Petri führt seinen Grafen Paris als eitlen Fatz vor. Sascha Goepel zeigt den Pater Lorenzo als fürsorglichen Mentor. Und Claudia Hübschmann wirbelt als Zofe über die Bühne.
Was düster mit dem Tod zweier junger Liebenden begann, endet mit einem rauschenden Fest. Dort trifft sich eine fröhliche Gesellschaft in Glitzerkostümen (Lane Schäfer). Auch Romeo und Julia begegnen sich dabei zum ersten Mal. Ein Tanz auf dem Vulkan? Aus der Perspektive der Julia, die sich an ihrer Umwelt abarbeitet, ganz sicherlich.