Foto: Thyra Uhde und Agnes Giese © Dorothea Heise
Text:Andreas Berger, am 22. September 2023
Es fängt gleich mit einer Ohrfeige und Riesenschreierei an, kurz vor Schluss gibt es noch mal einen fast minutenlangen Schrei, und zwischendrin ist der Ton auch kaum leiser. Die Regisseure Nico Dietrich und Christian Vilmar haben die Uraufführung des neusten Stücks von Oliver Bukowski am Jungen Theater Göttingen als übertuntes Dauerkabarett angelegt.
Es geht um ein ost-westliches Ehepaar, sie, Jenny, Krankenschwester mit DDR-Biografie, er, Raffael, gutmütiger Unimitarbeiter mit 68er-Hintergrund. Und um deren Tochter Maya, die sich in der Ukraine engagieren will, unterstützt von ihrer non-binären PartnerIn Leo.Bukowski hat da so ziemlich alles zusammengemischt, was der bundesdeutsche Alltag an Sprengstoff zu bieten hat. Und das hätte unter dem lakonischen Titel „Na, wenigstens betrachten wir denselben Mond“ ein dramatischer Schlagabtausch mit psychologischem Unterbau sein können, selbst wenn der Untertitel nach Art einer Triggerwarnung „Gewaltdarstellungen, Alkohol- und Drogenkonsum, Schimpfwörter, sexuelle Inhalte“ keine allzu feinsinnige Auseinandersetzung erwarten lässt. Warum nicht, in den Beziehungsdramen von Edward Albee oder Lars Norén wird auch nicht mit Glacéhandschuhen gekämpft.
Dominante Krankenschwester
Aber Bukowski lässt gleich von Anfang an scharf schießen, da sind keine Abgründe mehr aufzudecken. Und er kommt leider aus den Klischees nicht heraus, lässt viel zu viel längst Bekanntes in sarkastischer Zuspitzung ausbreiten, so dass der Erkenntnisgewinn gering bleibt, dank manch deftiger Formulierungen war aber für viele Zuschauende zumindest der Unterhaltungswert gegeben. Leider legt es die Inszenierung allzu oberflächlich darauf an, eine Pflegeszene als Clownerie war nur noch albern. Die Regie lässt es auch zu oder fordert gar, dass insbesondere Agnes Giese als Jenny, der ohnehin sicher gut zwei Drittel des Textes zufallen, dem Affen so richtig Zucker gibt. Was für eine Energie, aber leider gerät das zunehmend zur Charge. Und das dürfte eigentlich nicht sein, denn der Mutter-Tochter-Konflikt ließe doch viel mehr Farben zu, bräuchte auch leisere Töne. Natürlich kämpft da ein Muttertier um ihr Kind, versteckt ihre Ängste und Gefühle hinter Schnodderigkeit, Kraftausdrücken und waghalsigen politischen Scheinargumenten. Nur lässt Giese eben von diesen Beweggründen und Untertönen gar nichts spüren. Ihre Jenny ist ständig auf Krawall, und wenn sie nicht mehr weiterkommt, wirft sie sich ebenso exaltiert heulend der Tochter an den Hals.
Leider bleiben die drei anderen Figuren die meiste Zeit mehr oder weniger Stichwortgeber. Raffael kommt so gut wie gar nicht zu Wort, Jan Reinartz gleicht das mit sanftem Blick und Schulterzucken aus. Maya und Leo sind kräftiger, aber werden, gerade wenn ihre Aussagen wirken, schnell von Mutters oft populistischen Repliken überrannt. Viel zu spät kommt Mayas Schrei, der sie zum Schweigen bringt. Und tatsächlich beginnt danach endlich eine ersthafte Aussprache zwischen den beiden, plötzlich ist der Zwang zur schnellen Kabarettpointe weg, und wir sehen Menschen, die um ihre Liebe und ihre Werte ringen. Da zeigt auch Giese noch Potential, und Thyra Uhde als Maya hat sowieso eine schöne Bandbreite von starkem Ton bis ehrlicher Zuwendung, aber sie kommt eben nie recht lange zu Wort. Dorothea Röger gibt Leo als eher analytische BeobachterIn, nicht eben ein Ausbund menschlicher Wärme, aber sie stellt die schärfsten Fragen, die auch Jenny mal ins Schleudern bringen. Etwa, ob sie sich in der SED-Diktatur genügend für Freiheit engagiert habe. Und ob es nicht richtig ist, dass die jungen Frauen heute den Ukrainer:innen gegen die russische Diktatur beistehen wollen. Das Helfen in Gedanken nutze nichts.
Zu viel Comedy
Diese Einwände kommen spät, weil vorher Jenny fast ausschließlich das Feld beherrscht; das ist nicht gut für den politischen Diskurs in dem Stück, es müsste mehr direkte Gegenrede geben. Und auch mal ein gegenseitiges Begreifen, auch Betroffensein hinter der eigenen Position. Maya benutze den Krieg für ein Selfie, wirft ihr Jenny vor, aber Krieg sei keine Tictoc-Realität, Krieg bringe den Tod. Diese Urangst Jennys sollte auch Maya spüren können. Aber den Krieg hat sich die Ukraine nicht ausgesucht, er ist auch keine amerikanische Propaganda-Erfindung, das müsste sich Jenny unter ihrer Polemik eingestehen, auch dort sind Mütter, deren Kinder sterben. Erst nach dem Schrei kann Maya ihr das verständlich machen. Bukowski (und die Regie) setzt zu lange auf Comedy. Das Ende bringt eine verblüffende, richtig gute Wendung und sei deshalb nicht verraten.