Über Krieg nachdenken
Foto: Timofej Kuljabin © privat Text:Barbara Behrendt, am 1. Juni 2023
Seit einem Putin-kritischen Statement lebt der Regisseur Timofej Kuljabin im deutschen Exil. Seine Inszenierungen wie eine „Macbeth“-Aufführung am Schauspiel Frankfurt sorgen auch hierzulande für Aufmerksamkeit. In seine Heimat Nowosibirsk will Kuljabin nicht mehr zurückkehren.
Timofej Kuljabin blickt ziemlich hoffnungslos auf die Welt. Das wird in seiner neuen Inszenierung am Schauspiel Frankfurt offensichtlich. So grausam der Mörder Macbeth seine Rivalen auch abschlachtet – bei Shakespeare folgt zuletzt wenigstens das unglaubliche Happy End: Der Wald von Birnam bewegt sich auf den Schreckensherrscher zu, wie es die Hexen prophezeit haben, Macbeth muss sterben. Nicht so bei Kuljabin. Unter den heutigen Umständen einen solchen Sieg über Macbeth zu feiern, schreibt Kuljabins Dramaturgin Olga Fedyanina im Programmheft, hieße, unbegründeten Optimismus zu verbreiten.
Und so steht der Tyrann am Ende zähnefletschend an der Rampe. Seine Festung ist belagert, aber längst nicht eingenommen. „Ich will fechten, bis mir das Fleisch gehackt ist von den Knochen“, geifert er. Gefolgt von seinen tiefschwarzen letzten Worten: „Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild, ein Märchen ist’s, erzählt von einem Irren, voller Lärm und Wut, das nichts bedeutet.“
Der Irre – das ist Macbeth offensichtlich selbst. Moritz Kienemann gibt ihn als kalt schwitzenden Psychopathen mit weit aufgerissenen Augen und fratzenhaftem Joker-Grinsen. Nur notdürftig versteckt er seine Lust am Morden, wenn’s denn sein muss, unterm Unschuldsengelblick. Ein Sadist, der seine Frau mit Sado-Maso-Spielchen in der Dusche seines Führerbunkers dazu bringt, ihn zu würgen und zum Mord an König Duncan zu „zwingen“. Von Gewissensbissen wie in Shakespeares Vorlage keine Spur; Kienemann wirkt eher wie ein Wiedergänger des brutalen Alex aus Stanley Kubricks „Clockwork Orange“, gemischt mit einem kräftigen Schuss Lars-Eidinger-Körpertheater.
Theater als emotionaler Gemeinschaftsraum
Hier und da fühlt man sich an einen größenwahnsinnigen Weltherrscher der Gegenwart erinnert – vor allem, wenn man weiß, dass der Regisseur mit Beginn des Angriffskriegs aus seiner russischen Heimat geflohen ist. Etwa, wenn Macbeth eine extrem lange Tafel zwischen sich und seinen politischen Beratern aufstellt.
Doch die Anspielungen auf Wladimir Putin sind dezent – Kuljabin möchte sein Theater nicht als rein politischen Kommentar verstanden wissen. Und die Entscheidung für den „Macbeth“-Stoff war ohnehin lange vor Kriegsbeginn gefallen. Trotzdem, bejaht er im Gespräch einige Wochen vor der Premiere, sei seine Arbeit durch den Krieg politischer geworden. „Ich halte das Theater mehr für einen emotionalen Gemeinschaftsraum als für ein intellektuelles Medium. Mir geht es um Beziehungen zwischen Menschen. Aber der Krieg hat meine Theaterarbeit politisiert. Bei der Vorbereitung zu Macbeth war ich mir lange unsicher, wie ich das Stück interpretieren würde. Seit Februar 2022 ist klar: Ich will mit dem Publikum über Krieg nachdenken. Macbeth steht für die Diktatoren dieser Welt.“
Kein Wunder – schließlich hat sich auch Timofej Kuljabins Leben mit dem 24. Februar 2022 schlagartig verändert. Seitdem der 38-jährige Regisseur und künstlerische Leiter des Theaters Rote Fackel in Nowosibirsk gemeinsam mit seinem Team ein kritisches Statement zu Putins Krieg veröffentlicht hat, lebt er im deutschen Exil. „Ich habe mich für Deutschland entschieden, weil es ein sehr empathisches Land ist und ich hier viele Arbeitsbeziehungen habe.“ Kuljabin hat schon vor Jahren am Deutschen Theater in Berlin inszeniert und am Münchner Residenztheater, aber auch in Zürich – und in allen wichtigen russischen Theaterstädten.
Tschechow-Regisseur der Stunde
Bis zur militärischen Eskalation 2022 war er in Russland ein erfolgreicher Regisseur. Die Debatte um sein Operndebüt 2014 in Nowosibirsk machte ihn nur noch bekannter: Weil Kuljabin seinen „Tannhäuser“ als Christus darstellte, schlug die orthodoxe Kirche Alarm – die Inszenierung wurde nach nur vier Aufführungen abgesetzt. Der Intendant musste, angeblich wegen dieser Inszenierung, 2015 seinen Hut nehmen.
Kuljabins Tschechow-Interpretationen dagegen werden einhellig gefeiert. Er ist in großer Nähe zu diesem und weiteren Säulenheiligen des russischen Theaters aufgewachsen. Sein Vater leitete mehrere Theater – zuletzt für 23 Jahre jene Rote Fackel, in der der Sohn dann Chefregisseur und künstlerischer Leiter wurde. Timofej Kuljabin verbrachte seine Kindheit also im Theater und wusste schon früh, dass er auch dort arbeiten will: „Ich habe so viele Inszenierungen angeschaut und dabei oft gedacht: Das kann ich besser“, sagt er augenzwinkernd. Also studierte er an der berühmten Russischen Akademie für Theaterkunst in Moskau.
Man würde meinen, irgendwann habe ein junger Regisseur genug von den traditionellen Identifikationsfiguren der russischen Kultur – nicht so Timofej Kuljabin. Im Gegenteil: Er machte sich einen Namen als Tschechow-Regisseur der Stunde. Und inszenierte mit Ibsen und Strindberg zwei weitere psychologisch-realistische Autoren. Warum wendet er sich nicht zeitgenössischen Stoffen zu? „Ich interessiere mich eben nicht nur für einen Text, sondern vor allem für dessen Rezeptionsgeschichte.“ Wie kann man ein bekanntes Stück so auf die Bühne bringen, wie es noch nie gesehen wurde? Wie gewinnt man dem klassischen Kanon neue Lesarten ab? Das ist Kuljabins Grundfrage.
Frischzellenkur auf alte Klassiker
Am exemplarischsten dafür steht Kuljabins Inszenierung von Tschechows „Drei Schwestern“, die 2018 und 2019 von Russland aus um die Welt tourte und frenetisch gefeiert wurde. Das Konzept: Auf der Bühne fällt kein einziges gesprochenes Wort, alle 15 Schauspieler:innen verständigen sich mit Gebärdensprache. Das ist keine integrative Theaterarbeit mit Gebärdensprachlern – Kuljabins Ensemble brachte anderthalb Jahre damit zu, diese gestische Sprache zu erlernen. Es ist der Versuch, die tausendfach erklungenen, zu Bonmots verkommenen Tschechow-Sätze neu hörbar zu machen – in einer Sprache ohne Klang. Zum anderen steigt die Konzentration (bei Ensemble und Publikum) auf die Gefühls- und Beziehungsebene, wenn das gesprochene Wort fehlt.
Auch Kuljabins „Platonow“-Inszenierung 2022 am Deutschen Theater in Berlin hat so ein überraschendes Setting: Die jungen Figuren aus Tschechows Erstling macht der Regisseur zu Greisen und lässt sie in ein Seniorenheim für Schauspieler:innen einziehen. Hier ist es nicht der Bluthochdruck, der ihre Herzen schneller schlagen lässt: Platonow ist immer noch verliebt in die Illusion der ewig währenden Möglichkeiten. Auf der Bühne entfaltet das mehr und mehr dramatische Wirkung, denn in jedem absurden Aufbruchsversuch dieser Tattergreise in ein neues Leben ist die Angst vor dem Tod eingeschrieben.
Im besten Fall wirken diese ungewöhnlichen Interpretationen wie eine Frischzellenkur auf die alten Klassiker. Doch ein Drama schmiegt sich nicht immer passgenau in eine neue Form. Bei den gebärdenden „Drei Schwestern“ etwa starrt das Publikum fortwährend auf die Übertitel – denn gebärdet wird ungeheuer viel. Die Sprache der Inszenierung hat sich also bloß verlagert. Und die jungen Schauspieler:innen, die in „Platonow“ zitternd den Gehstock schwingen, können eben auch unfreiwillig komisch wirken. Mitunter sucht Kuljabin ein wenig zu angestrengt nach der exotischen, nie da gewesenen Formsprache.
Aufgegebene Heimat
Bei seinem „Macbeth“ ist die gewählte Folie weniger radikal: Der Königsmörder ist im Zeitalter der Medien und Fake News angekommen. Kameras zielen auf ihn, Szenen werden an den falschen Stellen „geschnitten“, also absichtlich abgebrochen. Doch auch hier knirscht es ein wenig: „Ist das ein Dolch, den ich vor mir hier erblicke?“, sagt Moritz Kienemann und ergreift ein Mikro, das vor ihm an einer Schnur baumelt. Das Mikrofon als tödliche Mordwaffe? Später, wenn der Mörder es fallen lässt, muss Lady Macbeth erschrocken zur Seite springen, als blitze eine scharfe Klinge. Die Frage, die Kuljabins oberbrutaler Königsmörder evoziert, ist allerdings brisant: Wie können die Menschen in seinem Gefolge den so offensichtlich Irren einfach gewähren lassen?
Kuljabin, dessen Leben in Russland eine jähe Zäsur erfahren hat, treibt diese Frage natürlich besonders um. Seine Familie leidet dort fortwährend unter dem Regime. Die Rote Fackel ist längst geschlossen, und Kuljabins Vater, der Direktor des Theaters, sitzt im Hausarrest. Vermutlich wegen der kritischen Äußerungen seines Sohnes. Timofej Kuljabin kann im Exil keinen Kontakt zu seinem Vater aufnehmen – Telefon und Internet sind abgestellt. Es ist dem Sohn anzusehen, wie schwer diese Last zu tragen ist. Er hat seine Heimat aufgegeben. „Momentan kann ich mir nicht vorstellen, jemals nach Russland zurückzukehren. Selbst, wenn Putin nicht mehr an der Macht ist.“ Auch, weil seine Enttäuschung über die schweigende Zivilgesellschaft zu groß ist. Macbeth ist nicht gestürzt. Er bleckt an der Rampe weiterhin die Zähne.
Timofej Kuljabin wurde 1984 in Ischewsk (Russland) geboren und ist ein russischer Schauspiel- und Opernregisseur. Er absolvierte sein Regiestudium an der Russischen Theaterakademie in Moskau (GITIS). Kuljabin ist Leiter des Theaters Rote Fackel in Nowosibirsk und erhielt zahlreiche Auszeichnungen. Seine Inszenierung „Drei Schwestern“ von Tschechow (2015, ausgezeichnet mit dem Nationalen Theaterpreis „Die Goldene Maske“, vom russischen Berufsverband der Theaterkritiker zum „Schauspiel des Jahres 2015“ ernannt) war in Gastspielen weltweit zu sehen. Die Inszenierung von Richard Wagners „Tannhäuser“ 2014 am Staatlichen Akademischen Opern- und Balletttheater Nowosibirsk wurde auf Druck der orthodoxen Kirche abgesetzt. Kuljabin lebt und arbeitet seit 2022 im Exil.
Dieser Artikel ist erschienen in Ausgabe 06/2023.