Foto: Alexander Tsymbalyuk, Olivia Boen, Renate Spingler © Brinkhoff/Mögenburg
Text:Roberto Becker, am 17. September 2023
An der Hamburger Staatsoper feiert Modest P. Mussorgskys „Boris Gudonow“ mit einer Deutung in Richtung Vergangenheitserbe Premiere. Im Spiel mit Symboliken und Raumdimensionen wird ein machtumkämpftes Russland abgebildet.
Schon vor über zwanzig Jahren gab es in Hamburg eine „Boris-Godunow“ Inszenierung. Damals wurden die Szenen, die in späteren Fassungen in Polen spielen, auf die Bühne gebracht. Für die schon vor drei Jahren vorgesehene Neuinszenierung dieser Oper haben sich Frank Castorf und Kent Nagano für die kompakte Urfassung von 1868 entschieden. Für die sieben Bilder muss man nur wenig mehr als zwei pausenlose Stunden einplanen. Im Schauspiel wäre man da bei Castorf vielleicht gerade in der ersten Pause.
Oper als public viewing
Diese Premiere musste vor allem wegen der Chorlastigkeit der Oper pandemiebedingt aufgeschoben werden. Jetzt liefert sie eine Saisoneröffnung, die sogar als public viewing (zeitversetzt) an den Jungfernstieg übertragen, also zu einem Event aufgerüstet wurde. Vielleicht verführte sie auch zufällige Zuschauer in der spätsommerlichen Abendluft zur Oper. Die muss zwar ohne populäre Reißer wie in jedem Verdi auskommen, präsentiert sich dafür aber im großen Ornat des Genres. Selbst im Vorübergehen entging niemand dem Funkeln der prachtvollen Kostüme von Adriana Braga Peretzki. Ebenso verführerisch: die opulenten Bühnenwelt von Aleksandar Denić, der mit seinen Kreationen schon bei Castorfs Bayreuther „Ring“ geradezu stilbildend wirkte.
Im Unterschied zu dieser Wagner-Großtat, erfinden Denić und Castorf diesmal keine Parallelwelt. Sie bleiben unverkennbar in Russland, blenden aber ziemlich clever verschiedenen Zeitebenen übereinander. Was man durchaus als Gesellschaftsdiagnose lesen kann. Man ist, was man ist vor allem aus dem geworden, was war. Es ist alles da: Vom vorrevolutionäre Codedress der Herrschenden, über die mit Kalaschnikows bewaffneten Erben des Umsturzes, bis zum zeitlosen Pomp der orthodoxen Kirche. Die Kirche nicht ohne ihre Insignien oder der Uniform des Zaren, samt des angedeuteten Glamours der Verschwendung in seiner Umgebung. Um die Hungersnöte anzudeuten, reicht das Gerangel an der Theke unter dem kyrillischen Schriftzug für Gastronom. Schließlich tritt der über seiner Chronik brütende Pimen dem Zaren am Ende im unverkennbaren Habitus Stalins gegenüber.
Eingespielte Regie und Bühne
Im wieder imponierenden Drehbühnenkonstrukt finden sich Architekturelemente des stalinistischen Barocks, samt Sowjetemblem wieder. Ebenso auf der Bühne: der penetrante Optimismus jener Skulptur von Arbeiter und Kolchosbäuerin, die in die lichte Zukunft einer Utopie abzuheben scheinen und zum Mosfilm-Logo avancierten (Respekt für die Hamburger Opern-Werkstätten!). Nach dem Tod des Zaren wird die, quasi über Nacht, durch eine eisgekühlte Coca-Cola Skulptur auf einem Louis Vuitton Sockel ersetzt. Eine orthodoxe Kirche mit Zwiebelturm vorn – die Fassade eines U-Bootes hinten. Auf solche dialektischen Einblicke verstehen sich dieser Regisseur und vor allem sein kongenialer Raumkonstrukteur auch diesmal ganz fabelhaft.
Das Ensemble im vielfältigen Bühnenbild. Foto: Brinkhoff/Mögenburg
Natürlich wird auch live gefilmt und auf Großleinwände übertragen, schon weil das zur Marke Castorf gehört. Aber es nervt nicht mit seinen triftigen Großaufnahmen. Sie zeigen den zunehmend von seinen Gegnern und seinem Gewissen bedrängten Boris, den Alexander Tsymbalyuk vokal mit profunder Präsenz differenziert singt und gestaltet; vom Intriganten Fürst Schuiskij, für den Matthias Klink genau der Richtige ist. In ein stumm erzählendes Video sind auch die Szenen verlegt, die in Polen spielen. Dort glaubt der Mönch Grigorij beinahe selbst, dass er der rechtmäßige Zarewitsch Dimitri ist, der dem Zaren den Thron streitig machen kann. Dovlet Nurgeldiyev ist hier mehr als exzellenter Darsteller gefordert, kommt aber nur bei seiner Flucht aus der Schenke auch stimmlich zum Zuge. Von der ganzen Vorgeschichte der Herrschaft Godunows berichtet Ryan Speedo Green als ein Warlaam mit raumgreifender Präsenz.
Vermeintlich zurückhaltende Castorf-Inszenierung
Castorf lenkt den Blick vor allem auf die Titelfigur und deren Scheitern. Den fabelhaft einstudierten und erweiterten Chor lässt er an der Rampe gleichsam in Reih und Glied Aufstellung nehmen, auch wenn sein Text die Legitimation für ein Drunter und Drüber liefert. Mag gut sein, dass da einer die Hoffnung aufgegeben hat, dass die Aktion der Massen etwas gegen die Mächtigen, ihre Waffen und die Kraft der Manipulation auszurichten vermag. Turbulent wird es erst, wenn der pure Hunger droht. Dass die Gegenwart (und zumindest auch die absehbare Zukunft) gegen die Übermacht der Vergangenheit kaum eine Chance hat – macht vor allem der inszenierte Raum überdeutlich. Insofern hat es auch ein auf den ersten Blick geradezu zahm wirkender Castorf in sich. Der überzeugt nicht zuletzt, weil Kent Nagano und seine Musiker genau den richtigen atmosphärisch Ton treffen, in dem sich ein höchst überzeugendes Protagonistenensemble einfügt.