Einer der Schiffbrüchigen hält einen roten Fetzen in der Hand, ein kommunistisches Symbol, zumal Hans Werner Henze den Wortführer der Studentenbewegung von 1968 Rudi Dutschke in seiner Villa bei Rom beherbergte, am Berliner Kongress gegen den Vietnamkrieg teilnahm und das Werk Che Guevara widmete. Bei der Uraufführung 1968 gab es einen Tumult wegen eines Che-Guevara-Posters und einer roten Fahne, die am Dirigenten-Pult befestigt waren.
Der Tod als Verführerin
Die Nachstellung des Unglücks im Wasser in Tobias Kratzers Inszenierung an der Komischen Oper ist bestechend fürchterlich, wenn alle (Chor-)Sänger:innen und Kompars:innen durch das Wasser auf das Floß stürmen, sich haltsuchend daran hängen oder später wie tot im Wasser treiben. Es ist auch eine unangenehm skurrile Szene, wenn sich einige Darstellende im Strand-Look neben dem Floß auf dem Badetuch fläzen und im Wasser planschen. So nah und doch so fern sind Katastrophen. Passend dazu die Zeilen aus Ernst Schnabels Libretto später im Oratorium: „Warum sind wir hier und nicht dort? Warum sind wir jetzt und nicht dann?” Wer hat Schuld am Unglück, wenn die Ordnung gesellschaftlicher Gesetze außer Kraft gerät? Wer sind wir dann?
Gloria Rehm als „La Mort”, tritt im Glitzerkleid als elegant-verführerischer Tod auf, der den Elenden wie eine Erlösung von ihrem Leid erscheint. Im Rettungsboot mit Schwimmweste ist die Figur des Fährmann Charon, gespielt von Idunnu Münch, weniger Mittlerin zwischen den Welten der Lebenden und Toten als Symbolbild für die Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer. Günter Papendell als Jean-Charles singt einen großartigen Primus inter pares, einen „Ersten unter gleichen” auf dem Floß als Sprachrohr der Verunglückten.
Lebensbejahende Endbotschaft
Titus Engel hält die Fäden von Orchester, Chorsolisten, Bewegungschor und Kinderkomparserie der Komischen Oper sowie das Vocalconsort Berlin und den Staats- und Domchor Berlin fest in der Hand. In der Aufführung sitzt das Publikum wortwörtlich mit den Darstellenden nicht in der „Méduse” aber im gleichen Boot, denn die Anordnung der schräg ansteigenden Zuschauertribünen links und rechts von der Bühne lassen im Gesamten die Ahnung eines Schiffes entstehen. So ist niemand je Unbeteiligte:r im (politischen) Weltgeschehen, auch nicht als Beobachter:in. Und gleichzeitig zeigt gerade das die Hilflosigkeit, mit der wir Katastrophen manchmal mitverfolgen müssen.
Henzes Polit-Oratorium trifft heute noch einen Nerv. Die Darstellung ist so abgründig wie Henzes Musik, die Streichinstrumente begleiten die Toten genauso nervenzehrend wie die Bläser die Lebenden. Schließlich kommt der tosende Applaus am Ende fast zu früh, ohne Raum, das Gesehene setzen zu lassen. Als Endbotschaft bleibt, dass sich zu leben und kämpfen lohnt, schließlich gelangte der Skandal der „Méduse” nur durch die Überlebenden an die Öffentlichkeit. Tobias Kratzer, der ab August 2025 die Hamburgische Staatsoper leiten wird, gibt in seiner Inszenierung dem Werk viel Raum, um für sich selbst zu sprechen und findet bleibende Bilder. In Zukunft bitte noch mehr davon!