Foto: „Was war und was ist“ in der Uraufführung an den Hamburger Kammerspielen © Bo Lahola
Text:Dagmar Ellen Fischer, am 15. September 2023
In 130 Minuten gemeinsam durch ein ganzes Leben rauschen – das schafft die Uraufführung des jüngsten Dramas von Lutz Hübner und Sarah Nemitz, Deutschlands erfolgreichstem Autoren-Duo zeitgenössischer Stücke: „Was war und was wird“ verfassten die beiden im Auftrag der Hamburger Kammerspiele, dem künstlerischen Leiter Sewan Latchinian gelingt eine ebenso unterhaltsame wie berührende Inszenierung.
An diesem Abend schauen viele im Publikum wie in einen Spiegel: Anke und Theo, ein gutbürgerliches Paar wie Millionen andere in diesem Land, nehmen auf der Bühne Platz, den Zuschauer:innen gegenüber. Auch sie sitzen offenbar im Theater, nörgeln über die vorangegangene Parkplatzsuche, den verpassten Prosecco, den unnötigen Kauf des Programmhefts (das als Gag tatsächlich dem des Abends entspricht). Es ist das alltägliche Genervt-Sein eines Ehepaars, das ernsthafte, unterschwellige Konflikte auf kleinen Nebenschauplätzen austrägt und sich vorsichtig wieder annähert – man ist ja in der Öffentlichkeit und kann nicht sagen, was man denkt.
Theater als Ort für einen Blick zurück
Theaterdunkel erfasst die Bühne. Nach diesem Schnitt dürfen beide sagen, was sie wirklich denken – allein mit einem Mikrofon an der Rampe Richtung Publikum: Theo beneidet seinen Sohn, der erstmals bei seiner Freundin übernachtet („der geht vögeln, und ich muss ins Theater“), Anke möchte getrennte Schlafzimmer, traut sich bislang jedoch nicht, den Wunsch zu äußern; die Freundin ihres Sohnes kennenzulernen, habe sie plötzlich älter gemacht.
Das Alter der beiden Akteure entspricht in etwa dem der Autoren, dem Ehepaar Sarah Nemitz und Lutz Hübner. Und sie verlangen ihren Protagonisten einiges an Verwandlung ab. Nina Kronjäger und insbesondere Stephan Benson sind darin großartig: Sie mutiert in eine Madonna bewundernde Jugendliche mit Vorliebe für Rosa; er wird zum schüchternen Jungen vom Land mit langen Haaren, Parka und Palästinenserschal. Die ungeplante Schwangerschaft wird zum Prüfstein der Beziehung, doch sie bleiben zusammen. Es folgt das Übliche: Heirat, zwei Kinder, Haus, Garten, er verdient das Geld, sie bleibt zuhause.
Spielend gehen beide zurück in die verschiedenen Phasen ihrer gemeinsamen Vergangenheit, schlüpfen in frühere Ausgaben ihrer Selbst und reflektieren damalige Situationen aus heutiger Sicht. Diese verblüffenden Wechsel sind die Stärke des Stücks, das im ersten Teil tatsächlich auch einige Längen hat, in denen es nostalgisch in Erinnerungen der persönlichen Liebesgeschichte schwelgt. Begleitet werden sie vom Soundtrack ihres Lebens, u. a. von David Bowie, Whitney Houston, ACDC und Michael Jackson.
Verlorene Erinnerung
Nach der Pause sind viele dieser Erinnerungen nicht mehr da – Theo leidet an Demenz. Er schaut einer immer schneller werdenden Bilderfolge zu, die beim Babyfoto beginnt und mit einem Porträt als Rentner endet und die ihn panisch zurücklässt. In Ermangelung anderer dichtet er seinen fragwürdigen Erinnerungen eine Alterspädophilie hinzu. Das gealterte Paar möchte nach den Reisen in die Vergangenheit wissen, was die Zukunft bereithält. Hier kommt die großartige dritte Person erneut ins Spiel – Alexa Harms als Stagehand, die immer wieder auch Nebenrollen übernimmt: Sie überreicht den Neugierigen zwei Geschenkpakete, die einen Blick auf Ankes und Theos verbleibende Zeit erlauben … und auch diese imaginierten Jahre verwandeln sich in Spielszenen: die besten des Abends! Nach zweieinhalb Stunden spendet das Publikum begeisterten Applaus – vermutlich nicht zuletzt aufgrund des Wiedererkennungswerts.