Szene aus "Exit above after the Tempest"

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Anne Teresa De Keersmaeker: Exit above after the tempest

Theater:Tanz im August, Premiere:18.08.2023 (DE)Komponist(in):Meskerem Mees, Jean-Marie Aerts, Carlos Garbin

Beim Berliner Festival Tanz im August stellte Anna Teresa de Keersmaeker ihr neues Tanzstück vor. In „Exit above after the tempest“ untersucht die Kult-Choreografin das Gehen als Ursprung.

„Vorwärts, rückwärts, seitwärts – mit und ohne Frontveränderung“, hieß eine Aufgabenstellung aus dem Unterricht bei Gret Palucca im Fach Neuer Künstlerischer Tanz. Zu den Fortbewegungsarten, die sie lehrte, gehörten: Gehen, Laufen, Schreiten, Gleiten, Hüpfen, Schleichen, Schlendern und Trippeln. Anfangs fehlte es den modernen Tänzerinnen an Tanz-Technik und Unterrichtsmethodik. Also begann man ganz „natürlich“ im Sinne der Lebensreformbewegung mit dem Gehen und entwickelte daraus weitere Bewegungsmöglichkeiten.

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Tanz über das Gehen

Nun hat Anne Teresa De Keersmaeker unter dem Motto „Mein Gehen ist mein Tanzen“ mit ihrer Gruppe Rosas ihr neues Werk in Berlin vorgestellt. Sie untersucht – gemeinsam mit ihren Tänzer:innen – die unterschiedlichen Formen des Fortbewegens von diesem Gehen als Ursprung aus.

Sie wolle, so heißt es in der Ankündigung, von einfachen motorischen Abfolgen hin zu räumlicher und physischer Komplexität kommen. Die Choreografie arbeitet mit der Spannung zwischen dem Marschieren als Gruppe und dem Aussteigen Einzelner, mit der romantischen Idealisierung des Wanderns im Gegensatz zum politischen Potenzial, das sich entfalten könne, wenn Menschen mit demselben Anliegen einfach gemeinsam nebeneinander gehen.

Spielarten des Gehens beim Berliner Tanzfestival

Entstanden ist so „Exit above after the tempest“, das im Rahmen des Festivals Tanz im August am 18. August 2023 seine Deutschland-Premiere im Haus der Berliner Festspiele hatte. Zu erleben ist eine im besten Sinne gelungene Unterrichtsstunde zum Thema Fortbewegung: einzeln, zu zweit oder als Gruppe; vorwärts und rückwärts; gerade und kreisend.

Am Bühnenboden sind Raumwege aufgezeichnet, mit denen die Tänzer:innen im Laufe des Abends vereinzelt in Beziehung treten werden. Ansonsten ist der Bühnenraum leer. Das Ensemble wird mit dem live gesungenen „I go walking“ in Bewegung versetzt: erst als Gruppe parallel vor und zurück, dann aber auch im Kreis.

Vom Einfachen zum Komplexen tanzen

Es folgen weitere Bewegungsmotivationen wie „I always walk after midnight“. Solche Gruppen-Formate werden stets unterbrochen von Soli oder Duetten. Hier treten Nina Godderis und Solal Mariotte auffallend expressiv in Erscheinung.

Im Verlauf des Abends gesellen sich dann zum Gehen auch Laufen, Hüpfen, Springen und Drehungen im Raum. So entsteht vor den Augen des Publikums eine Dramaturgie von einzelnen Bewegungs-Etüden. Herausgekommen ist schließlich eine groß angelegte Bewegungsstudie, die wie eine jede gute Tanz-Stunde aufgebaut ist: vom Einfachen zum Komplexen, vom Langsamen zum Schnellen, von der Bewegung am Platz zur Fortbewegung im Raum.

Und auch zu den Inhalten des Gesangs setzen sich die Akteur:innen in Beziehung. Wenn von Stopp die Rede ist, stoppen also auch die Tänzer:innen. Wenn von Feuer die Rede ist, gibt es auch Feuer auf der Bühne. So entsteht allerdings mitunter der Eindruck, dass die Aktion auf der Bühne die Aussage des Textes lediglich illustriert.

Berauschende Choreografie begeistert in Berlin

Illuster sind ebenso die Bühnen-Effekte, die Anne Teresa De Keersmaeker zum Einsatz kommen lässt: ein Ventilator lässt am Anfang des Abends ein fast durchsichtiges Tuch wehen – der Sturm also, der schon im Titel als Ausgangspunkt gesetzt ist. Es folgen Nebel und Stroboskop sowie das rasant im Kreis geschleuderte Mikrofon, das im völligen Dunkel ein bedrohliches Rauschen erzeugt. Es stürmt und gewittert also immer mal wieder im Laufe der Vorstellung. Wer mag, kann Assoziationen zu William Shakespeares „Sturm“ entwickeln.

Schlussendlich und als Höhepunkt gerät das Ensemble in einen treibenden Rhythmus, der dann alle mitreißt und zu dem veranlasst, was wir gemeinhin Tanz zu nennen pflegen. Alles vorab in der Bewegung Angedeutete und Ausprobierte schafft sich Raum in einer nahezu ekstatischen, wirklich berauschenden Choreografie, in der es immer wieder auftauchende Gruppen-Arrangements gibt und sich am Ende das gesamte Ensemble im Kreis wiederfindet. Dafür gibt es bei der Premiere spontanen und frenetischen Applaus und Jubel. Das Publikum ist sichtlich begeistert.

Bemerkenswerte Künstlerinnen

Eine Darstellerin sticht an diesem Abend heraus. Es ist Meskerem Mees, die Singer-Songwriterin, die die gemeinsam mit Jean-Marie Aerts und Carlos Garbin, der sie mit der Gitarre begleitet, komponierten Songs live vorträgt. Doch sie singt nicht nur hinreißend, sie rezitiert, spielt Saxophon und tanzt – wie selbstverständlich – mit. Besonders berührend ist ihr Solo – die Tänzer sind dabei nahezu bewegungslos – „Ein Sturm weht vom Paradies her“. Diese Künstlerin ist grandios und die Inszenierung wäre um einiges ärmer ohne sie.

Als die modernen Tänzer:innen sich vor gut 100 Jahren in Deutschland etablierten und sammelten, war eine ihrer ersten Forderungen die nach einer eigenen Tanzhochschule. Eines der dort benannten Kernfächer sollte die „Bewegungsregie“ sein. Fraglos ist Anne Teresa De Keersmaeker eine solche Bewegungsregisseurin, fraglos auch ist sie eine großartige.