Foto: Johanna Bantzer, Nellie Fischer-Benson, Sophie Casna, Hanh Mai Thi Tran und Yasmin Mowafek in "Die Wut, die bleibt" © Salzburger Festspiele/Kerstin Schomburg
Text:Anne Fritsch, am 19. August 2023
Jorinde Dröse adaptiert für die Salzburger Festspiele Mareike Fallwickls Roman „Die Wut, die bleibt“ und schafft einen intensiven und empowernden feministischen Theaterabend, der im Publikum regelrechte Begeisterungsstürme auslöst.
„Haben wir kein Salz?“ – Diese Frage, gestellt vom Vater beim Abendessen, wird in Mareike Fallwickls Roman „Die Wut, die bleibt“ zum Auslöser der Katastrophe. Es ist ein Buch von einer seltenen und seltsamen Intensität, ein einziger Aufschrei gegen das Patriarchat, gegen eine Familien- und Gesellschaftsordnung, in der Männer vor allem mit ihrer Außenwirkung, Frauen vor allem mit Überleben beschäftigt sind. Auf nur einer Seite, der ersten, schildert die Salzburger Autorin das gesamte Drama der immensen Belastung eines Alltags mit kleinen Kindern, die – noch immer – viel zu oft an den Müttern hängen bleibt, weil die Väter „arbeiten müssen“. Helene hört aus der Frage nach dem Salz ein „du“ heraus, das sich in eine ganze Reihe „dus“ einreiht, die allesamt Forderungen an sie sind und in einer einzigen großen Überforderung münden. Wie da immer nur Lärm ist und niemals Ruhe; wie rund um die Uhr die Kinder an ihr kleben und sie niemals alleine ist; wie ein Tag dem anderen gleicht und sich endlos vor ihr ausbreitet, voll mit dem Wollen der anderen. Die Frage nach dem Salz also wird zum Auslöser einer Katastrophe, die sich lange angebahnt hat. Helene steht wortlos vom Tisch auf, geht zum Balkon und springt.
Selten oder nie war ein Romananfang so dicht und intensiv wie dieser, war das Drama eines ganzen Lebens (und das einer ganzen Familie) so präzise auf nur einer einzigen Seite auf den Punkt gebracht. Was folgt, ist die „Zeit ohne Mama“. Nicht nur die quälende Frage nach dem Warum und die Schuldgefühle, sondern auch die Lücke, die Helenes Tod reißt. Eine Lücke, die deutlich macht, dass diese Gesellschaft noch immer wenig Alternativen bietet zur Care-Arbeit von Müttern. Das Buch nähert sich dem „Danach“ aus zwei wechselnden Perspektiven: der von Helenes ältester pubertierender Tochter Lola und der von Helenes bester Freundin Sarah. Anhand dieser beiden Frauen erzählt Fallwickl, wie unterschiedlich die Reaktionen auf die Situation sind: Während Sarah selbstverständlich funktioniert, radikalisiert sich Lola im Kampf für Geschlechtergerechtigkeit.
Fragen nach Verantwortung und Care-Arbeit
Als letzte Schauspielpremiere der diesjährigen Salzburger Festspiele (eine Koproduktion mit dem Schauspiel Hannover) hat die Regisseurin Jorinde Dröse den Roman nun adaptiert. Sieht man diese Produktion in einer Reihe mit den vorangegangenen Schauspielpremieren „Liebe (Amour)“ nach Michael Haneke und „Der kaukasische Kreidekreis“ nach Bertolt Brecht ergibt sich beinahe so etwas wie eine Trilogie um den Kosmos Familie, Verantwortung und Care-Arbeit: die Pflege der kranken Ehefrau in „Liebe (Amour)“, die Frage nach der Mutterliebe im „Kreidekreis“ und nun also die Rolle von Frauen in Familie und Gesellschaft.
Dröse beginnt konträr zum Roman nicht mit dem Tod, sondern mit der Geburt. Der Geburt von Lola, die Helenes Leben von Grund auf verändert, sie zur Mutter macht. Johanna Bantzer steht als Helene an der Rampe und erzählt von diesem archaischen Vorgang, der in eine Liebe mündete, „die nicht wachsen musste“, die gewaltig war und klar und unbezwingbar. Sie verspricht ihrer Tochter, sich immer um sie zu kümmern, sie niemals alleine zu lassen. Nur eine Szene später springt Helene nach der Salz-Frage hinten von der Wohn-Etage, die Katja Haß auf die Bühne gebaut hat, ins Dunkel. Die Not ist über die Jahre mächtiger geworden als die Liebe und das Versprechen.
All das fächert Dröse erst nach und nach auf. Sie hat den Roman auf wesentliche Ereignisse konzentriert. Viele der intensiven Schilderungen des Familienalltags und der Motivationen wurden gestrichen, die beiden kleinen Brüder von Lola zum Beispiel kommen nur in der Erzählung vor. Damit geht schon allerlei verloren, andererseits: So lohnt die Lektüre des Buches auch für die, die die Aufführung gesehen haben. Und diese entwickelt wiederum ihren eigenen Sog und besteht ganz für sich.
Bereit für den Aufstand
Helene fungiert als Erzählerin und Kommentatorin. Im Individuellen taucht immer wieder das Strukturelle auf. Die sogenannte „Teilzeitfalle“ etwa, in die fast immer die Mütter geraten und fast nie die Väter; die beinahe unbeantwortbare Betreuungsfrage (die in Zeiten der Pandemie noch essentieller wurde); die Gewalt von Männern gegenüber Frauen. In einem seltsam automatischen und scheinbar zwangsläufigen Prozess wird Sarah zur Ersatzmutter, übernimmt alle Aufgaben einer Mutter, ohne eigentlich Mutter zu sein. Anja Herden liefert eine eindrückliche Überforderungs-One-Woman-Show ab, wenn sie mit dem Laptop unterm Arm (sie bildet sich noch ein, gleichzeitig arbeiten und die Kinder betreuen zu können) ins Rotieren gerät zwischen Kotze-Aufwischen, Tee-Kochen, Trösten, Füttern und und und. Während Johannes, der Vater, entweder arbeitet oder sich aus Selbstmitleid betrinkt.
Es ist Lola, die das alles zuerst in Frage stellt und Sarah ihren Helferreflex ebenso zum Vorwurf macht wie die Bücher, die sie schreibt und in denen Frauen immer wieder Opfer männlicher Gewalt werden. „Und was bist du, Lola?“, fragt Sarah. „Ich bin bereit!“, antwortet Lola. Bereit für den Aufstand. Mit ihren Freundinnen trainiert sie Kampfsport, sie gründen eine Gang der jugendlichen Rachegöttinnen, die sich all die übergriffigen Männern vorknöpft, auf Gewalt mit Gewalt antwortet. „Wenn man sich beim Aufbegehren an die Regeln hält, was ist das dann für ein Aufbegehren?“, fragt sie. Nellie Fischer-Benson spielt diese Lola grandios, ihre Wut und ihr Schmerz leuchten in jedem Moment aus ihren intensiven Blicken.
Eine wirkliche Lösung für all diese Probleme bietet „Die Wut, die bleibt“ natürlich leider nicht, auch wenn die wütenden Teenager am Ende verkünden: „Frauen wie wir werden überall gebraucht!“ Aber diese Theaterfassung bringt mit einer dem Buch durchaus vergleichbaren Dringlichkeit ein gesellschaftliches Problem auf die Bühne, das angegangen werden muss. Die empowernde Machtübernahme der jungen Generation jedenfalls wird im Salzburger Landestheater mit tosendem Applaus und Standing Ovations gefeiert!