Körper an den Grenzen
In seinem neuen Solo „Dance is not for us“ arbeitet Rajeh konsequent mit zwei komplementären Ebenen: der des Geistes und klugen Kopfs sowie der enorm physischen seines Bodies. Letzteren reißen die Rhythmen der eingespielten Perkussionsbegleitung immer wieder einfach mit – manchmal womöglich wider den eigenen Willen. Im Mittelteil des Stücks (der ohne textliche Flankierung auskommt) scheint es, als würden all die in Rajehs Körper eingegrabenen Erinnerungen an Kreationen, Aufführungen und vielleicht auch glückliche Feste aus ihm herausbrechen.
Man kann ihm dabei bloß fasziniert zusehen und muss manchmal hoffen, dass ihm bei einem seiner gelegentlichen Stopps zum fast krampfartigen Luftschnappen nicht plötzlich doch das Herz stehen bleibt. Denn sogar im Sitzen beginnen aus seinem Innersten immer wieder schmetterlingshaft-schnelle Bewegungen zu pulsieren. Finger und Hände flattern. Erst kreisen die Arme mit, dann der gesamte Oberkörper. Ein Trippeln erfasst die Fußsohlen und bald moven die Glieder von den Knien über die Hüfte bis zum Kopf im Zickzack. Ruckartig heben sich die Schultern zu den Ohren. Und dem die Anspannung lösenden Rallentando hin zum Plié geht ein strahlend-verführerisch koketter Blick voraus: Anklänge – auch musikalisch – an den heimatlichen Volkstanz.
Choroegraf Omar Rajeh. Foto: Elizabeth Pearl
Choreografie zwischen Libanon und Exil
Der Libanese zählt zu den bekanntesten Choreografen des Nahen Ostens. Vor vier Jahren hat er Beirut mitsamt seiner eigenen Kompanie Maqamat verlassen. Diese hatte Rajeh, der aus einem kleinen Ort in den Bergen stammt, nach seinem Abschluss 2002 an der Universität Surrey gegründet. Zahlreiche Uraufführungen, die seither entstanden sind, waren an großen europäischen und internationalen Häusern zu Gast. So steuerte er als Künstler Maßgebliches zur Entwicklung einer zeitgenössischen Tanzszene im Libanon bei – bis hin zur „Beirut International Plattform of Dance“ (BIPOD), einem der wichtigsten Festivals für Tanzproduktionen der Gegenwart in den arabischen Staaten.
Der Entschluss seine Heimat zu verlassen, um fernab von Korruption, unvorhersehbaren Einschränkungen und der Verantwortungslosigkeit libanesischer Politiker von Lyon aus künstlerisch weiterzuarbeiten, war gewiss keine leichte, wenngleich eine bewusste Entscheidung. Es war ein Abschied auch vom damals gerade mit seiner Partnerin Mia Hablis eröffneten eigenen Theater. Am 4. August 2020 zerstörte dann eine katastrophale Explosion weite Teile des Beiruter Hafens und der angrenzenden Stadt. Rajeh war da länger schon in Frankreich.
Seine nun im Rahmen der Münchner Tanzwerkstatt Europa erstmals in Deutschland gezeigte Arbeit greift viele emotionale Momente dieser Zeit auf und stellt starke sozio-politische Bezüge zu dem Land her, mit dem der Künstler weiterhin verbunden bleiben möchte. Für das geschundene Beirut sieht er kaum Zukunftsperspektiven und fabuliert, man werde sich irgendwann erzählen, ein Riesenelefant sei vom Himmel gefallen und habe die Stadt ausgelöscht. Den Schmerz, dem als Tänzer nichts Konstruktives entgegensetzen zu können, fasst er in die treffenden Worte, wie „wenn dir ein Elefant aufgrund seines Gewichts die Knochen aus Liebe bricht“.
Berührender Tanz über Macht
„Ich stehe hier hinter der Kulisse und trinke noch etwas“, sagt Rajeh am Anfang. Dann betritt er, eine grüne Topfpflanze in der Hand, die bis auf einen Tisch und Stuhl leere Bühne. Das Publikum nimmt er mit auf eine autobiografische Reise, in (s)ein kreatives Universum, in dem Tanz eine schier explosive Rolle spielt. Erste Station ist der Garten der Großeltern. Nur kurz gleiten Rajehs Finger über die Tasten seines am Tisch liegenden Computers. Schnell löst sich das Bild eines vor den Augen des Publikums seine Biografie tippenden Autors auf, wenn Rajeh mehrere mit kleinen Pflanzentöpfchen vollgestellte Tabletts um sich im Raum verteilt.
In Form von drei fließend ineinander übergehenden Akten – und nicht wirklich unterbrochen durch eine fünfminütige Pause, die eine Aufnahme des libanesischen Sängers Nasri Chamseddime akustisch wunderschön ausfüllt – bietet sich dem Zuschauer ein regelrechter Overflow an sinnlichen Zustandsbildern: voller subtiler Drastik, die fliehkraftartig widerspiegelt, was in einem Menschen vorgeht, dessen Heimat erst lange durch Bürgerkrieg und später durch eine schreckliche Katastrophe komplett aus der Bahn geworfen wurde.
Eine derartige performative existenzielle Aufarbeitung von Machtstrukturen oder Angst lässt sich momentan auf den halben Erdball übertragen. Leider. Überall gibt es Menschen, die – ähnlich wie Rajeh – mit dem Schmerz der Hilflosigkeit leben und aufgrund des gewählten Berufs das Gefühl von Ohnmacht verspüren, wirklich tatkräftig helfen oder irgendetwas bewirken zu können. In „Dance is not for us“ wird Tanz zur Quelle der Hoffnung und einer partizipativen Inspiration. Am Ende hebt Rajeh ein Pflanzentöpfchen hoch und geht auf das Publikum zu. Dann wiederholt er diese Geste mit einer ganzen Palette. Es sind genügend kleine duftende Basilikum-Pflänzchen für alle da. Eines hält Rahej hoch und besteigt einen Stuhl. Spontan ergrünt der ganze Saal. Reich beschenkt verlässt man die Aufführung!