Der Anfang, das Introitus des „Requiems“ von Kenneth MacMillan zu Gabriel Faurés gleichnamiger Komposition zieht auch nach fast 46 Jahren noch in den Bann. Am 28. November 1976 wurde es vom Stuttgarter Ballett uraufgeführt. Der schottische Choreograf hatte es seinem einstigen Freund aus der Londoner Ballettzeit, John Cranko, gewidmet. Mit dem Gründer und Direktor des Stuttgarter Balletts hatte sich MacMillan 1970 wegen Budget- und Kostümfragen überworfen und ihn nie wiedergesehen. Dann starb Cranko 1973 auf dem Rückflug von New York nach einer gefeierten Tour – und das Requiem nahm Form an.
Schon länger hatte Royal Ballet-Chef MacMillan zu Faurés Opus 48 eine Choreografie schaffen wollen. Das Direktorium des Royal Opera House lehnt das ab. Zu groß war die Furcht damals, dass der Tanz zu der „heiligen“ Totenmesse religiöse Gefühle verletzen könnte. Also wandte sich MacMillan an Marcia Haydée. Die Prima Ballerina war gerade in Stuttgart zur Ballettdirektorin ernannt worden. Ohne Zögern nahm sie das Angebot an. Wohl wissend, dass die Oper der Stuttgarter Staatstheater problemlos auch die für das Werk benötige Gesangssolisten samt Orgelpart liefern konnte.
Die Vorteile eines großen Theaterhauses
Das ist heute noch so in dem Dreispartenhaus. Gefühlvoll intonierten Sopranistin Kiki Sirlantzi und Bariton Kabelo Lebaya das „Requiem“ – mit dem figure humaine kammerchor, den junge Musikerinnen und Musiker aus Stuttgart 2016 gründeten. Und die Wiederaufnahme, zweiter Teil des Ballettabends „Remember Me“ zum 50. Todesjahr Crankos, studierten gar die Ikonen Marcia Haydée, Birgit Keil und Egon Madsen ein. Sie tanzten einst mit Richard Cragun und Reid Anderson die Uraufführung.
Ihre jungen Nachfolgerinnen und Nachfolger interpretierten das Stück über Freundschaft, Verletzung und Verlust freilich auf ihre Weise. Sie geben zeitgenössisch Dynamik zur Elegie. Wie Elisa Badenes, die mit Jason Reilly – im biblisch anmutenden Lendenschurz – und Martí Fernandez Paixà in wunderbar sehnsüchtige Pas de Deux’ eintaucht. Bewegend auch ihr puristisches Solo zum Pie Jesu, dem ewigen „Ruhe in Frieden“. Und kraftvoll das Quartett im Libera Me: Friedemann Vogel, Martí Fernandez Paixà, Clemens Fröhlich und Satchel Tanner scheinen das Ensemble als starke Engel ins Paradies zu führen, wo Frauen auf den ausgestreckten Männerarmen dem Himmel entgegen getragen werden wie Seelen, die von allem Irdischen befreit ins helle Licht gehen.
Tanz über das Menschsein
„Requiem“ ist ein MacMillan wie er in dessen Choreografiebuch stehen könnte. Und mehr: kontrastreich und konstruktiv, klar und komplex. Hebungen und Sprünge scheinbar aus dem Nichts, fließende und verzerrte Bewegungen, strukturierte wie emotional auskragende Duette und Gruppen. Zeitlose Transzendenz vermittelt das reduzierte Bühnenbild.
Die puristischen Glasfaserpaneele der Künstlerin Yolanda Sonnabend erinnern an moderne Kirchenfenster einer Apsis. Allein die Leotards – eierschalenfarben mit Rippen und Muskelstrangzeichnung auf dem Torso – gemahnen an die Ästhetik der 1970er-Jahre. Geist der Zeit! Doch jenseits dessen: Kenneth MacMillans „Requiem“ ist ein Meisterwerk über das Menschsein im Allgemeinen und im Besonderen, erzählt von Schmerz und Trost; es sollte immer wiederentdeckt werden.
Das Erbe des Stuttgarter Balletts
Das gilt auch für den ersten Teil des Abends: John Crankos „Initialen R.B.M.E.“ – aber vor allem aus Gründen der Stuttgarter Ballett-Geschichte. Choreografierte doch der Südafrikaner das Stück über Einsamkeit, Freundschaft und Gemeinschaft zu Johannes Brahms 2. Klavierkonzert damals seinen ersten Solisten Richard, Birgit, Marcia und Egon auf den Leib. Dazu schuf Jürgen Rose abstrakt-expressive Kulissenbilder. Heute tanzen Adhonay Soares da Silva, Anna Osadcenko, Elisa Badenes und Matteo Miccini deren anspruchsvolle Parts mit Duetts und Ensemble – voller herausfordernden Tippel-Bewegungen, Sprüngen, Rückbeugen, verzwickten Hebungen. Das ist technisch gut, braucht aber wohl die Würze der Reife, die darin angelegten Brüche, die Melancholie, die Eigenart der Persönlichkeit.
Die Crux: Wer auch immer die „Initialen“ tanzt, er und sie können nicht „R.B.M.E.“ sein. Was die Leistung der Tanzenden nicht schmälert, sie sind auf den Spuren des damaligen „Stuttgarter Ballettwunders“. Das Stück ist und bleibt eine Signatur der Kompanie, steht für Crankos Genie. Jede Generation muss es für sich neu erarbeiten. Wie sagte noch der 2012 verstorbene Richard Cragun? „Dieses Stück ist eine Art Souvenir John Crankos, es sagt eigentlich: Denkt an mich!“