Foto: Chor und Ensemble des Theaters Erfurt in "Fausts Verdammnis" © Lutz Edelhoff
Text:Roland H. Dippel, am 8. Juli 2023
Der französische Komponist Hector Berlioz spielt in seiner Adaption von Goethes Versdrama „Faust“ mit deutschen Klischees. Bei den Domstufen-Festspielen in Erfurt wird die Oper zum Totaltheater.
Seit 30 Jahren gibt es die Domstufen-Festspiele in Erfurt bereits – ohne roten Teppich, aber mit Defilee der thüringischen Politikprominenz und VIP-Gästezelt. Wichtiger aber: Das Festival mit dem monumentalen Einheitsbühnenbild aus Stein war nie ein reines Abarbeiten ‚klassischer‘ Sommertheater-Hits. Es verstand sich unter der langjährigen Intendanz von Guy Montavon immer auch als Präsentationsort für in Mitteldeutschland kaum gespielte Musiktheater-Werke wie Verdis „I Lombardi alla prima crociata“ oder (lang ist es her) Leonard Bernsteins „Mass“. Nun will man mehr Nachhaltigkeit, lieh Requisiten für die aufwändig bezwingende „Faust“-Show von anderen Theatern.
Immer wieder bekannte man mit Licht Flagge, so für die Ukraine bei „Nabucco“ 2022 (ohne Versöhnungsfinale der Primadonna) und bei Tschaikowskis „Jungfrau von Orléans“ mit Rainbow-Colours.
Musikalische Reise
Dieses Jahr kam man auf ein ideales Musikstück, hatte Glück mit Ben Baurs idealer Inszenierung und einem idealen Sujet mit Regionalbezug: Hector Berlioz‘ erst in Monte Carlo 1896 erstmals szenisch aufgeführte dramatische Legende „La damnation de Faust“ aus Paris (1846). Auch dass Puppenspiele und Jahrmarktstheater in der frühen Neuzeit erste Adaptionen des Fauststoffes waren, war für die Erfurter Entscheidung für „La damnation de Faust“ ausschlaggebend.
Delikat ist der mit Hilfe von Almire Gardonnière nach Gérard de Nervals Goethe-Übersetzung ins Französische gesetzte Berlioz-Geniestreich aus gleich mehreren Gründen. Nicht zuletzt produzierte Berlioz in „Fausts Verdammnis“ auch eine musikalische Deutschland-Reise mit Tourismus-Appeal, in welcher der Komponist allerlei Klischeebilder der Grande Nation über ihre kleinstaatlich diffusen Nachbarn summierte.
Faust steht am Grab
Ben Baur ist die richtige Person für solch theatrales Total-Unterfangen. Er hat die Händchen für diese ästhetische Mixtur aus Opulenz, Wissensbrücken zur Vergangenheit, manchmal Pathos und minimaler Ironie. Faust steht zu Beginn mit Schlips und Spaten an einem Grab – und im Finale kommt er mit gleichem Outfit ins Grab.
Zum Rákóczi-Marsch staffiert sich ein bürgerlicher Theater- oder Gesangsverein mit tiefroten Narrenkappen und weißen Gesichtslarven aus, stürmt zu Faust. Intelligent griff Baur also Berlioz‘ Klischee-Spielchen auf. Sein Bühnenbild: Eine Engelsstatue, eine steinerne Madonna mit Devotionalien am mausgrauen Sockel, ein Friedhof sind derart täuschend an die eindrucksheischende Dom-Treppe appliziert, dass Nicht-Ortskundige sie für originales Drumherum des Monumentalbaus hätten müssen. Natürlich auf Neugotisch.
Theater mit überzeugender Ausstattung
Baur – und mit ihm Uta Meenen mit ihren kongenialen Kostüme – denken noch viel weiter. Wenn der Domstufen-Faust nach Klerus-Schelte, schönen (und im 19. Jahrhundert erfundenen) Brauchtumstänzen sowie einer domstufenbreite Wallfahrtsprozession Berlioz‘ süffige Genreszenen durchhat, erscheint Gretchen mit rosa Joppe und zitronengelben Zöpfen.
Um mindestens eine Generation verjüngt ist sie und fährt Fahrrad. Zum Höllenritt vom höchsten Punkt in die Tiefe legen Projektionen den Dom in Flammen und drängt ein Ballett aus schwarzen Regenschirmen den Gelehrten zur infernalischen Unruh, während die Teufelsnarren wieder zu schwarzgrauen Bürgern werden. Betörend in Berlioz‘ tönenden Deutschlandbildern, seiner bizarren Hölle und einem Himmel, der Marguerite mit weichen Geigensoli empfängt, ist der Erfurter Opern- mitsamt Philharmonischem Chor rundum stark gefordert. (Einstudierung: Markus Baisch).
Musikalische Leistung in Erfurt
Mit lackleuchtenden Auto eilt der Dirigent Yannis Pouspourikas nach der Vorstellung aus dem etwa einen Kilometer entfernten Theater Erfurt herbei, aus dessen Orchesterprobesaal das Philharmonische Orchester Erfurt akustisch und visuell zu den Domstufen hinüber broadcastet. Auf alle Fälle wird ganz viel von Berlioz‘ burlesker und zirzensischer, aber nie teutonisch verdickter Instrumentation eingefangen. Nicht ganz wie in einem Konzertsaal, aber immerhin …
Der Franzose Christophe Berry tut sich als Doktor Faust mit Berlioz‘ hohen Cis-Schmeicheleinheiten im Balzduett etwas schwer, strahlt leuchtend über den Ostergesang und setzt ein eindrucksvolles Gebet. Jean-Luc Ballestra – mit Melos und kantiger Deklamation – ist beim ersten Auftritt ein roter Priester, trägt dann das Opferlamm in Schwarz zum Altar.
Julie Robard-Gendres Marguerite weiß schon vor dem faustischen Liebeszauber alles über die „süßen Ekstasen“ und zelebriert – ein bisschen am Partiencharakter vorbei – die Verzweiflungsszene mit dem Aplomb einer Belcanto-Königin. Die Übertitel sind übrigens nicht von Goethe, sondern Eindeutschungen aus de Nervals „Faust“-Übersetzung. Auch das zu passt zu Baurs und Montavons geistreicher Volkstheater-Revue.