Foto: Günter Alt, Charlotte Schwab, Beatrix Doderer, Anna Graenzer und Bettina Hauenschild in "König Lear" in Bad Hersfeld. © Steffen Sennewald
Text:Konstanze Führlbeck, am 1. Juli 2023
Shakespeares „König Lear“ ist die dramatische Geschichte über Generationenkonflikt und den Widerstreit zwischen Macht und Liebe. Bei den Festspielen in Bad Hersfeld inszeniert Tina Lanik den Klassiker geradlinig mit minimalistischem Stil und zeigt die charakterliche Entwicklung dank eines wunderbaren Ensembles.
Angst vor Shakespeare? Das ist in Tina Laniks packender, präzise strukturierter Inszenierung von „King Lear“ überhaupt nicht nötig, denn die Regisseurin erzählt in ihrem Debüt bei den 72. Bad Hersfelder Festspielen die Geschichte um den alternden König und seinen Freund und Berater Graf Gloucester sehr geradlinig und psychologisch motiviert.
Bühne und Kostüme von Stefan Hageneier verlegen das Werk zunächst in eine heutige Geschäftswelt, über der golden glitzernden Fassade der Firmenzentrale prangt die Überschrift „Happy Birthday – 80“. Davor sieht man einen großen runden Tisch. Hier verteilt der scheidende Patriarch Lear, der sich mit seiner Hofhaltung ins Privatleben zurückziehen will, sein Erbe. Diesen König verkörpert bei Tina Lanik kein Mann, sondern eine Frau: Charlotte Schwab. Die mitreißend präsente Theater- und TV-Darstellerin tritt mit tiefer Stimme, faltigem Gesicht und schütterem Haar auf – das Alter hat den Unterschied zwischen den Geschlechtern verwischt.
Lears halbherziger Rückzug ist allerdings keine gute Idee. Denn wie Tina Lanik durch drei sich bereits spielerisch um das Erbe zankende Mädchen in einem kurz aufblitzenden Prolog zeigt, sind vor allem die beiden Töchter Goneril (Katrin Röver) und Regan (Nora Buzalka) mit ihren Ehemännern Albany (Frank Wünsche) und dem militanten Cornwall (David Moorbach) auf Macht aus. Nur die jüngste Tochter Cordelia (Friederike Ott) liebt Lear wirklich. Und deshalb weigert sie sich im Gegensatz zu ihren Schwestern auch trotzig, diese Liebe in Worten zur Schau zu stellen. Lear missversteht das, enterbt und verstößt sie, die daraufhin den König von Frankreich (Thomas Huber) heiratet und außer Landes geht. Die warnende Stimme seines Freundes, des Grafen von Kent (Günter Alt), schlägt Lear in den Wind.
Auch Lears Freund Graf Gloucester (Max Herbrechter) trifft fatale Fehlentscheidungen in seiner Familie: Er demütigt seinen unehelichen Sohn Edmund (Phillip Henry Brehl) und fällt danach auf dessen Intrige gegen seinen älteren Sohn Edgar (Bijan Zamani) herein, die diesem Mordpläne gegen den Vater unterstellt.
Klare Figurenentwicklung in Bad Hersfeld
In klarer Personenführung zeigt Tina Lanik beide Handlungsstränge und verflicht sie unmerklich miteinander, ohne dass die Transparenz und die packende atmosphärische Dichte ihres minimalistischen und gerade dadurch umso überzeugenderen Regiestils darunter leiden. Mühelos meistert sie dabei immer wieder den bruchlosen Wechsel zwischen darstellendem Spiel und epischer Erzählung.
Lear wird von beiden Töchtern, bei denen er laut Abdankungsvertrag abwechseln leben kann, abgekanzelt: Seine Ansprüche und das Auftreten seiner Gefolgschaft sind ihnen zu viel. Sie demütigen ihn und wollen ihn gänzlich entmachten. Dabei zeigt Katrin Röver sehr deutlich, wie sich Goneril zu einer manipulativen Potentatin entwickelt. Währenddessen ist Nora Buzalkas Regan von ihrer neuen Rolle überfordert und muss sich Mut ansaufen.
Die Stimmung spitzt sich immer mehr zu, was die atmosphärischen Klänge der auf der Bühne wie eine Spielerin platzierten Cellistin Lea Tessmann eindrucksvoll untermalen.
Shakespeare mit Endzeitstimmung
Der zweite Teil des Abends zeigt in der imposanten Kulisse der Stiftsruine eine Endzeitszenerie: Vor einer großen Kugel (Symbol der Welt oder einer Bombe?) gibt es nur noch drei verfallene Baumhaushütten um eine leere Drehbühne. Schwarze Müllsäcke liegen an den Seiten herum. Hier treffen wir Lear wieder, begleitet von seinen drei Närrinnen an Stelle des Narren der Dramenfassung. Das ist eine Neuerung von Tina Lanik, die damit vielleicht auf die drei prophetischen Schicksalsgöttinnen der griechischen und germanischen Mythologie anspielt – zumal die drei das Verhalten von Lear wie der Chor der attischen Tragödie kommentieren und ihm dadurch zu Erkenntnissen verhelfen.
Gleichzeitig aber schreitet sein körperlicher Verfall immer weiter voran. Unter dem weiten Mantel zeigt ihn Charlotte Schwab als nackten Greis mit hängenden Genitalien. Währenddessen findet der zwischenzeitlich von Regan geblendete Graf Gloucester hier seinen Sohn Edgar wieder, der sich als Tom der Narr getarnt retten konnte und ihm hilft, seine Verzweiflung und Selbstmordpläne zu überwinden.
Diese beiden Katharsis-Ereignisse spielen sich in einer immer eindringlicher werdenden Atmosphäre von beschwörender Intensität und fragiler Zartheit ab. Derweil spitzt sich die Tragödie immer mehr zu. Eine vorzeitig extrem gealterte Cordelia kehrt mit einem französischen Heer zurück, doch durch Edmunds Intrige wird sie getötet. Wie Lear sie hereinträgt und sterbend über ihrer Leiche zusammenbricht, ist einer der berührendsten Momente dieser an Höhepunkten reichen Inszenierung, die das Publikum nicht eine Sekunde aus ihrem Bann entlässt.
Daran konnte auch eine technische Panne am Mischpult kurz vor der Pause nichts ändern, die Charlotte Schwab souverän meisterte. „Ihr könnt nicht weiterspielen? Ich schon“, meinte sie locker. „Aber ich würde dich gerne nicht nur sehen, sondern auch hören“, sprach sie ihre Partnerin an. Überhaupt fesselt der Bad Hersfelder Lear nicht nur durch das rundum stimmige Konzept von Tina Lanik, sondern auch durch eine überzeugende Ensembleleistung, in der neben der einfach wunderbaren Charlotte Schwab jeder Darsteller seine Rolle profiliert herausarbeiten kann.