Das morbide Zentrum der „Poppea“
Die Regisseurin Tatjana Gürbaca jedenfalls glaubt diesem Finale offenbar keine einzige Note. Und sie ist radikal konsequent in diesem Misstrauen und nimmt gemeinsam mit dem musikalischen Leiter Christoph Spering am Theater Bremen gleich mal das ganze Werk auseinander. Aber sie stiftet ihr Ensemble dabei zu einer sängerdarstellerischen Leistung an, die schlicht hinreißend ist. Und sie trifft damit genau ins morbide Zentrum dieser moralisch nicht geheuren Oper. Wer Gürbacas Zweifel nachvollziehen kann, erlebt eine faszinierende Opernaufführung. Wer allerdings nicht ganz so vertraut ist mit Monteverdis Spätwerk, der steht möglicherweise vor einem Abend der schönen Rätsel und offenen Fragen. Und das liegt auch am etwas zerfahrenen Beginn.
Die allerersten Momente zwar, die sind stark. Klaus Grünberg hat wieder einmal eine seiner wundersamen Bühnen erschaffen: eine öde Schräge mit überdimensional aufwuchernden Zimmerpalmen ganz hinten, beleuchtet vom Mond, dem Gestirn der Liebenden, in gleich dreifacher Ausführung. In der Mitte ein Flügel, der da musikhistorisch definitiv nichts zu suchen hat, der aber von Seneca später noch nach bester Barpianisten-Manier bespielt wird. Und davor zwei klobig-quadratische Clubsessel, rechts und links sitzen die Instrumentalisten. All das wirkt wie absichtslos hingeworfen und ist doch von einer atmosphärischen Intensität, die einen einsaugt. Statt des Prologs mit dem sängerischen Wettstreit der drei Allegorien Fortuna, Virtù und Amore erhebt ein kindlicher Amor (Aiseha Steinkamp) die Sprechstimme und setzt das Spiel in Gang. Dass dieser Weltgeschickslenker, dessen Amoralität man immerhin seiner kindlichen Indifferenz hätte zugute halten können, aber alsbald durch ein animalisch über die Bühne turnendes, in einer seltsamen gutturalen Kunstsprache krächzendes älteres Ego ersetzt wird (der Schauspieler Gaizka Chamizo), ist erstmal ziemlich irritierend.
Monteverdis heillose Welt
Und wer sind eigentlich die Choristen in Silke Willretts seltsamer Camp-Fashion, die da zusammen mit den Instrumentalisten auf die Bühne kommen, auf der das Hauptpersonal, in rätselhaften Konstellationen erstarrt, schon auf den Beginn der Handlung wartet? Sie „arrangieren“ die Hauptfiguren neu, studieren sie, tragen Mappen wie Seminarunterlagen bei sich und beobachten die Handlung wie ein von ihnen bestelltes Experiment. Bei einer ziemlich schrillen Gangbang-Szene binden sie sich rosa Schweinsrüssel auf die Nase und machen sogar munter mit. Das einzige Kollektiv, das in dieser Oper handlungstragend vorkommt, sind die Gefolgsleute des Philosophen Seneca, und tatsächlich: Ihm sind die Choristen auch zugeordnet. Schon hier zeigt Tatjana Gürbaca, wie das Gefolge mit seinem Glauben an Senecas Tugendlehre heillos untergeht. Nur dauert es leider arg lange, bis einem dieser Seifensieder aufgeht.
Aber mehr und mehr gewinnt das enigmatische Geschehen an atmosphärischer Intensität und struktureller Plausibilität. Seneca, dem der Bassbariton Christoph Heinrich immer wieder Sentenzen aus dem Fundus der neueren deutschen Lyrik oder Essayistik mit DDR-Provenienz in den Mund legt, wird hier enorm aufgewertet zum großen Gegenspieler Amors, der auch nach seinem befohlenen Selbstmord weiter mitmischt im Geschehen. Und im Laufe des Abends kommen diese beiden Gegenspieler einander immer näher, weil offenbar auch Amor erkennen muss, dass das trost- und ruchlose Geschehen, das er da losgetreten hat, seinen Triumph vergiftet. Und man begreift: Tatjana Gürbaca will hier nichts heil lassen, weil die Welt, die Monteverdi und sein Librettist Giovanni Francesco Busenello aufspannen, tatsächlich völlig heillos ist.
Das Schauspiel dominiert die Musik
Diese Dekonstruktion wendet sich nicht nur gegen die fiktive lineare Plausibilität der bizarr überzeichneten Handlung. Sie wendet sich auch gegen die musikalische Struktur. Von rund vier Stunden Musik sind nur mehr noch etwa 140 Minuten übrig. Als Orchester-Besetzung wählten Gürbaca und Spering die denkbar kleinste: zwei Theorben (und gelegentlich Laute) und zwei Cembali als Continuo-Gruppe, dazu zwei Violinen, ein Cello und einen Kontrabass. Etliche Partien sind gezielt nicht fachgerecht besetzt: Nero mit einer Frauenstimme, so dass sein Geschlecht indifferent bleibt; die Arnalta mit einem Tenor, dessen Stimme gar nicht zur Tessitura der Partie passt. Und auch wenn das Stimmfach stimmt, agieren die Sänger viel stärker aus dem Impuls der sängerisch-szenischen Aktion heraus als aus einem Ideal von wie auch immer gearteter historischer Aufführungspraxis.
Das Schauspiel dominiert die Musik und soll sie auch dominieren – so sehr, dass die Sänger immer mal wieder ächzend, schreiend, krächzend aus dem Kunstgesang herausfallen. Wie das kleine Orchester sich dem anpasst und im Laufe des Abends zu einem gleichsam improvisatorischen Drive findet, ist beachtlich. Aber auch das ist natürlich eine dekonstruktive Maßnahme gegen eine musikalisch heile Welt, der Gürbaca und Spering nicht mehr über den Weg trauen. Und am Ende räumt Tatjana Gürbaca gründlich auf: Nicht nur Seneca ist als Opfer von Neros und Poppeas Machenschaften zu beklagen, auch Arnalta, Ottone, Drusilla, Otavia fallen ihnen zum Opfer. Alle zelebrieren ihren Tod ein zweites Mal in der notorischen Zinkwanne, in der zuvor Seneca verblutet ist. Und ein flimmerndes Licht legt sich über die Bühne, als würde diese Welt von Maden zerfressen – blutrünstiger und morbider wurde der Triumph der Liebe auf der Opernbühne selten gefeiert.
Musikalisch bietet der Abend immer wieder schöne Momente, auch weil Marie Smolka als brillant perlende Poppea, Dmitry Egorov als weich timbrierter Ottone, Christoph Heinrich als tiefseriöser Seneca, Constanze Jader als lodernd warme Ottavia, Elisa Birkenheier als quecksilbrige Drusilla und Christian-Andreas Engelhardt als grell travestierte Arnalta starke vokale oder singschauspielerische Glanznummern gelingen. Vor allem aber balanciert Ulrike Mayer in immer neuen queeren Kostümen von Silke Willrett Neros psychopathische Sex- und Mordlust so hart an der Grenze zur Parodie entlang, dass es wirklich Spaß macht. Das Premierenpublikum jubelte enthusiastisch. Ob sich auch Zuschauer, die beim Stichwort Monteverdi nicht gleich kennerisch mit der Zunge schnalzen, hier mitreißen lassen werden, bleibt eine interessante Frage. Zu wünschen wäre es ihnen.