Foto: Roger Krebs und Jan Żądło in "1984" am Theater Regensburg © Marie Liebig
Text:Klaus Kalchschmid, am 4. Juni 2023
Der Roman „1984“ ist vielleicht die bekannteste Dystopie. Lorin Maazel hat die Geschichte zu einer Oper gemacht. Endlich feiert das Stück in Bayern Premiere am Theater Regensburg.
Science-Fiction-Romane können veralten, vor allem wenn sie in einer ganz konkreten Zeit spielen, die irgendwann Gegenwart ist. „1984“ von George Orwell erschien 1949, heute sind wir etwa so weit entfernt von der fiktiven Handlung in der Zukunft wie Orwell, als er den Roman schrieb. Aber er ist heute aktueller denn je und wenn am Ende vom „Big Brother“ der größte Sieg der Menschheit im Krieg von Ozeanien mit Eurasien und Ostasien proklamiert wird, denkt man heute beklommen an den Krieg, den ein „Großer Bruder“ gegen ganz Europa und die Freie Welt angezettelt hat.
Bei Orwell werden Fakten aus der Vergangenheit der Gegenwart angepasst und die entsprechenden Quellen nachträglich geändert, auch das ist leider heute kaum mehr Fiktion. Und auch die Parolen in Ozeanien sind denkbar absurd und doch heute schon beinahe Alltag, wenn skrupellose Diktatoren ihr Volk belügen wollen: „Krieg ist Frieden“, „Freiheit ist Sklaverei“, „Unwissenheit ist Stärke“.
Langer Weg nach Bayern
Lorin Maazels Oper nach der berühmten Vorlage auf ein Libretto von J.D. McClatchy und Thomas Meehan war als Auftrag von August Everding für München und die Bayerische Staatsoper geplant. Doch erst 2005 erlebte sie ihre Londoner Uraufführung. Danach wurde sie in Mailand und Valencia gezeigt, verschwand jedoch für zwölf Jahre in der Versenkung. Noch nicht einmal Notenmaterial war verfügbar. Dank einer DVD der Uraufführung unter Leitung des Komponisten mit Simon Keenlyside und Diana Damrau war sie nicht ganz verschollen. Nun erlebte die Oper ihre deutsche Erstaufführung am Theater Regensburg.
Die fast 20 Jahre seit ihrer Entstehung haben die Partitur freilich nicht altern, sondern gut reifen lassen. Immerhin war die Uraufführung doch umstritten und Maazel sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, mit eingängiger Musik den Gehalt des Romans zu verwässern. Heute stört sich kaum jemand mehr am Eklektizismus der Partitur, an den Anleihen bei Kurt Weill oder vor allem Benjamin Britten, die Maazel effektvoll zu nutzen weiß.
Neue Orchesterfassung in Regensburg
Das wird gerade in der „Fassung für mittelgroßes Orchester“ deutlich, die Norbert Biermann für Regensburg erstellte. Allenfalls bei den Streichern fällt das ein wenig auf, denn gerade die langen Passagen, in denen tiefe Blechbläser dominieren, haben auch in dieser Version eine enorme Wucht und Kraft. Sie dominieren die erste große Liebesszene zwischen Julia und Winston, die sich heimlich verabreden und – was strengstens verboten ist – intim werden, ohne für Fortpflanzung zu sorgen.
Sie erzeugen auch an anderen Stellen immer wieder große Spannung, etwa wenn sie, wie in der Folterszene des dritten Akts, zusammen mit gellenden Flöten den düsteren Grund der nun zum Spaltklang gespreizten Musik bilden. Sie verstärkt sowohl die physische wie psychische Gewaltanwendung mit immer neuen Volten, die den Stromschlägen, denen Winston ausgesetzt ist und seiner zunehmenden Panik ebenso zerquälte Klänge entgegensetzen. Das Philharmonische Orchester Regensburg ist seinen komplexen Aufgaben hier erstaunlich gut gewachsen.
Effektvolle Musik
Und wer wollte Maazel ernsthaft vorwerfen, dass die Ozeanier nach der täglich verordneten kollektiven morgendlichen zwei-minütigen Hass-Orgie gegen den imaginären Gegner Emmanuel Goldstein zur Bestärkung der eigenen Identität eine Hymne singen, die in ihrer Mischung aus feierlichem Ernst, Hybris und Parodie klingt wie eine Synthese aus allen Nationalhymnen dieser Welt.
Immer wieder findet Maazel für das Geschehen der Überwachung und Gängelung des Einzelnen, für die permanente diffuse Bedrohung packende Töne, lässt oftmals im Arioso singen und nutzt die Opernkonvention verschiedener Stimmfächer für prägnante Figurenzeichnung.
Überzeugendes Ensemble
Da ist zum einen der Koloratursopran: Ensemblemitglied Kirsten Labonte verblüfft mit Stratosphärenglanz, Agilität und mühelosen Spitzentönen in verschiedenen Rollen. Theodora Varga setzt als Julia ihren dramatischen Sopran mit großer Wirkung ein. Währenddessen ist ihr Geliebter Winston als Bariton-Partie angelegt, die alles Lyrische sprengt: Der Pole Jan Żądło bewältigt sie mit großer Bühnenpräsenz facettenreich. Leider zwingt ihn der massive Druck aus dem Graben, in dem Tom Woods das Gewicht der Partitur manchmal mit allzu großer Lautstärke betonen will, immer mehr zum Forcieren.
Anthony Webb verkörpert den im „Ministerium für Liebe“ als Spion angestellten O‘Brien als schillernde Mischung aus Charakter- und Heldentenor. Er erschleicht sich das Vertrauen Winstons, verrät ihn an die „Partei“ und wird schließlich zu seinem eiskalten Peiniger. Kleinere Rollen wie Syme (Carlos Moreno Pelizari) oder Parsons (Jonas Atwood) sind aus dem Ensemble hervorragend besetzt. Dazu kommen Kinder- und gemischter Chor als uniforme Masse, deren blaue Overalls eine Mischung aus Arbeits- und Kampfanzug darstellen und jegliche Individualität wie das Geschlecht nivellieren.
Bilder der Dystopie
Kristopher Kempfs Bühne besteht aus variablen vertikalen und horizontalen Metallgittern, die Räume begrenzen oder öffnen können. Sie werden zu verschiedenen Gefängniszellen, die jederzeit Ein- und Ausblicke erlauben – und sei es durch ein Gemälde, hinter dem eine Kamera versteckt ist. William Turners flammender Sonnenuntergang mit der Silhouette Londons, in der der Roman spielt, ist ein Gruß aus längst vergangener Zeit. Monitore zeigen immer wieder „Big Brother“ (es wird in der englischen Originalfassung gesungen!) mit Augen, die Furcht einflößend aussehen, als wären sie in großer Hitze blind geworden.
Wann immer er zwischen den Szenen aus dem Off spricht, sieht man auf einer herabgelassenen Leinwand, hinter der umgebaut wird, eine computergenerierte Wochenschau (Video: Sven Stratmann) in unheimlicher Mischung aus steriler Brutalität und ästhetischer Glätte.
Wie zu Beginn der Spielzeit bei Gottfried von Einems Oper nach Franz Kafkas „Der Prozeß“ (einer anderen berühmten literarischen Dystopie) die den Überwachungsstaat immer nur erahnen lässt, führte Regie der Regensburger Intendant Sebastian Ritschel und entwarf auch die Kostüme. Zusammen mit der Uraufführung von Anton Lubchenkos „Wir“ nach dem gleichnamigen Roman von Jewgeni Samjatin aus dem Jahr 1920, der Inspirationsquelle für Orwell war, ist so innerhalb eines Jahres in Regensburg eine feine Trilogie musiktheatralischer Fassungen von beängstigenden Science-Fiction-Romanen entstanden. Eine derart inhaltlich originelle, zeitgemäße Programmierung mit Raritäten des 20. Jahrhunderts würde einem finanziell üppig ausgestatteten Repertoirehaus wie der Bayerischen Staatsoper auch einmal gut anstehen!