Dabei hat diese Oper alles, was großes Musiktheater braucht: eine tolle Story über eine Halbwelt-Künstlerin, die an dem ihr von ihrem Geliebten angetanen Betrug nicht etwa zugrunde geht, sondern über sich hinauswächst zu einer selbstbestimmten, im bürgerlich-moralischen Sinne autonomen Frau. Eine tolle Musik, die sowohl in den Motiven wie auch in der zupackenden Dramatik die „Pagliacci“ anklingen lässt, die aber ungleich gestaltenreicher und differenzierter daherkommt. Und tolle Gesangspartien, bei denen es einem heiß den Rücken runterläuft, wenn sie gut gesungen werden. So wie jetzt am Theater Bielefeld unter der Leitung von Alexander Kalajdzic und in einer Inszenierung von Nadja Loschky.
Oper wie ein Psychothriller
Zazà ist der kommende Star eines Café-chantants in der prosperierenden Industriestadt Sainte-Etienne. Leoncavallo kannte solche Bars mit Revueprogramm aus seiner Zeit als Barpianist in Paris. Entsprechend präzise und episodenreich beschreiben seine Musik und sein eigenhändiges Libretto das Backstage-Treiben um Zazà und ihren Kollegen. Ihr neuer Liebhaber Dufresne genießt als Sänger in dieser Welt eine exponierte Stellung, die Liebe zwischen den beiden trägt zunächst alle Züge einer glücklichen Amour fou.
Was aber ein Widerspruch in sich wäre, so auch bei Leoncavallo: Dufresne ist heimlich verheiratet, Zazà bekommt das heraus und stellt ihn in einem finalen Dialog, spannend wie ein Psychothriller, zur Rede. Hier rechnet der „Pagliacci“-gestählte Kenner jederzeit mit einem Mord oder Selbstmord aus Leidenschaft oder auch mit beidem. Aber Zazà, auch in Erinnerung an ihre eigene triste Kindheit als Fast-Waise, will keine Ehe zerstören. Sie düpiert Dufresne und schickt ihn fort. So wird die Halbwelt-Lady zur Anwältin der bürgerlichen Moral, weil der halbbürgerliche Künstler zu deren Verräter geworden ist – und zum Urheber von Zazàs Unglück, die, am Ende allein, bilanziert: „Tutto e finito!“.
Plädoyer für Queerness in Bielefeld
Nadja Loschkys Inszenierung am Theater Bielefeld im Bühnenbild von Manuel La Casta und den pittoresken Kostümen von Irina Spreckelmeyer beginnt mit einer Irritation: Zu Anfang erblicken wir im effektvoll ausgeleuchteten Bühnendunkel keine mondäne Varieté-Bühne, sondern einen ziemlich altmodischen, heruntergekommenen Zirkus in einer trostlosen städtischen Randzone mit all seinen queeren, schrill kostümierten Artisten, Clowns und Lumpengestalten. Eine Trans-Frau spricht zu Beginn die Anfangssätze von Thomas Manns Erzählung „Beim Propheten“, die hier klingen wie ein Loblied auf diese abseitige Artistenwelt – die aber eigentlich eine böse-ironische Abrechnung mit dem L’art-pour-l’art-Ästhetizismus des Stefan-George-Kreises sind. Mehr noch: Im Kontext dieser Zirkuswelt mit all ihren queeren Akteuren werden die Worte des Mitgefühls mit den Armen und Verlorenen, die Leoncavallo seiner Zazà immer wieder in Mund legt, zu einem Plädoyer für Queerness und Diversity. Und das ist wirklich eine sehr schöne Pointe.
Andererseits ist so ein Zirkus mit seinem fahrenden Volk eine eigene Welt, während im Revue-Café Bürgerlichkeit und Halbwelt einander eng durchdringen. Was ein bürgerlich arrivierter Ehemann wie Dufresne in so einem Zirkus verloren hat, weiß man nicht so recht. Aber Nadja Loschky erzählt die Geschichte in ihrer psychologisch genauen, empathischen Personenführung in Bielefeld so lebendig nach, dass solche Irritationen wenig ins Gewicht fallen, weil man an den atmosphärischen Szenen dennoch mit Spannung folgt. Zumal einen Leoncavallos tolle Musik förmlich einsaugt. Alexander Kalajdzic lässt es manchmal ordentlich dröhnen, aber er formuliert auch die feineren musikalischen Episoden sehr schön aus, so dass ihm insgesamt ein überzeugendes Plädoyer für die Qualität dieser Musik gelingt.
Die Aura der Titelfigur
Dušica Bijelić ist eine wirklich grandiose Titelheldin, wobei zur Ausdruckskraft ihrer Zazà neben ihrem starken Schauspiel auch die Tatsache beiträgt, dass ihre Stimme immer wieder mal ein bisschen aufgeraut, angespannt klingt. Gerade dieses nicht ganz Lupenreine, Spröde gibt ihrem hellen, differenziert geführten, im Forte kraftvollen Sopran eine Aura von Exaltiertheit und Gefährdung, die die Zazà stark charakterisiert. Ihr zur Seite ist Nenad Čiča ein erstaunlicher guter Dufresne, eindimensionaler als seine Partnerin, aber mit schönem, stabilem, geradlinigem „italienischem“ Tenor.
Und schließlich der Cascart von Evgueniy Alexiev: dunkel und elegant, manchmal etwas verkrampft, und sein „Zazà, piccola zingara“, die einzige etwas bekanntere Nummer dieser Oper, blieb blass, weil es ihm da an strömender Wärme fehlte. Selbst kleine Partien wie der Journalist Bussy von Todd Boyce oder der Theaterdirektor Courtois von Andrei Skliarenko sind gut besetzt. Und in der Rolle von Zazàs Mutter Anaide überzeugt Enkeleida Shkoza die Zuschauer zumindest von ihrer Stimmkraft restlos.
Am Ende Jubel ohne Ende. Weitere Aufführungen sind am 8., 17., 23. und 25. Juni, am 10. Oktober ist die Wiederaufnahme geplant. Und ja: Wer sich diese Oper entgehen lässt, der hat wirklich was versäumt!