Noch am gleichen Wochenende präsentierte ihr Bruder Mario Schröder an der Oper Leipzig seine Zusammenarbeit mit dem Musiker und Beat Box-Star Reeps100 alias Harry Yeff und auch in „Fusion“ geht es um das Thema künstliche Intelligenz. Allerdings wird sie in Leipzig nicht als Kuriosum vorgeführt, noch eine Geschichte um sie gestrickt. Vielmehr geht es darum, Mensch, Natur und Maschine zu vereinigen.
Bewegungscodes
Der Eiserne Vorhang ist noch geschlossen, doch durch die Boxen im Saal ist ein Atmen zu hören. Es ist ein Geräusch, dass das Leben auf der Erde bestimmt. Der Vorhang öffnet sich und im Graben steht ein Mann vor einem Mikrofon, der impulsiv, den gesamten Körper nutzend ein- und ausatmet. Auf der anderen Seite sitzt ein Mann an einem Klavier und sorgt für eine pulsierende, elektronisch verfremdete Klangfläche.
Auf der Bühne hängen scheinbar steife Körper waagerecht in schwarzen Schlaufen und werden auf- und abgefahren. Das Auge kann ihnen nur schwer folgen, da gleichzeitig Lichtstreifen über sie wandern. Vor ihnen liegen eng ineinander verschlungen drei Menschengrüppchen. Nur allmählich kommt Bewegung in die Körper auf der Bühne, anfangs heben und senken sich lediglich die Arme. Langsam lösen sich die einzelnen Tänzer:innen voneinander und sind als einzelne Menschen zu erkennen. Dennoch bleiben die Gruppen untereinander, nur hin und wieder finden sich einzelne Bewegungen bei anderen wieder. Im Hintergrund kommen immer mehr Menschen auf die Bühne und beginnen sich unisono zu bewegen. Dabei werden sie von beeindruckenden Bass-Sounds des Beatboxers im Graben begleitet, die zusammen mit den Bewegungen auf der Bühne an Oberton-Gesänge erinnert.
Forschungszusammenarbeit in Leipzig
Harry Yeff aka Reeps100 will als Musiker die Grenzen des gesamten Stimmapparats austesten und immer mehr ausweiten. Als Beatboxer beherrscht er dafür schon zahlreiche „analoge” Techniken wie das scharfe Einatmen. Für den tiefen Ton versetzt er seine Stimmbänder in Schwingung. Mit der Zunge und den Lippen erzeugt er klickende, knackende und schlagende Geräusche. Doch er arbeite auch intensiv mit elektronischer und digitaler Technik: Er wechselt das Mikrofon und im Hintergrund laufen seine Sounds durch Loops und werden durch verschiedene Filter weiter verfremdet. Begleitet wird er dabei von Gadi Sassoon, der sich von KI-generierten Bildern zu Kompositionen inspirieren lässt, die er in Leipzig mit Klavier, Computer und E-Geige einspielt.
Über mehrere Monate hat Harry Yeff mit dem Leipziger Ballett zusammen gearbeitet, um eine neue Seite seiner Musik zu erkunden – und auch das Ballett hat eine neue Form von musikalischer Interaktion erleben können. Im zweiten von fünf Teilen wird von hinten ein Wasserbecken auf die Bühne geschoben: Mit seinen Bass-Beats sorgt Yeff für Schwingungen im Wasser, während das Ensemble im Halbkreis darum steht und Bewegungsimpulse durch sich fließen lässt. Neben dem Atem steht hier das zweite Ursprungselement des Lebens im Fokus. Schließlich beendet ein Schwall Wasser aus dem Bühnenhimmel die Szenen.
Noch eindrücklicher wird die Zusammenarbeit, als Harry Yeff mit einem kleinen schwarzen Kubus die Bühne betritt. Die Bühne ist inzwischen von zahlreichen unregelmäßgen, weißen Quadern bedeckt, die an Eisblöcke erinnern. Mehrere Tänzer:innen stehen dazwischen. Wenn ein Lichtspot von oben auf sie fällt, gibt Reeps100 ihnen einen Beat und sie bewegen sich entsprechend: Zu leisen Klängen sind es sanfte Wellen durch den ganzen Körper, zu scharfen Sounds zittert und zuckt es und zu harten Beats werden auch die Bewegungen größer und ausladender. Dann fallen mehrere Lichtkegel auf die Bühne und Reeps100 reagiert darauf mit einer anspruchsvolleren Routine, die alle nötigen Sounds zu verbinden scheint.
Tanz des Zusammenwachsens
In seinen jüngsten Arbeiten hat sich Mario Schröder intensiv mit den Fragen beschäftigt, was Menschen zusammenhält und verbindet. Das lässt sich auch in „Fusion“ erkennen. Das Programm verrät in einem komplex wirkenden, aber letztlich linearen Schaubild den Ablauf des anderthalbstündigen Stücks: Da wird die Menschheit zur Gemeinschaft, da wird die KI scheinbar aus dem Wasser geboren. Ein beeindruckendes Solo macht die Schwerkraft sichtbar (wo doch der Tanz sonst gerne nach Leichtigkeit und Levitation strebt) und somit den Kampf ums Überleben. Am Ende, so das Programmheft, verschmilzt alles: Natur, Technik und Menschen werden eine Einheit und auch Harry Yeff geht wieder auf die Bühne und atmet mit dem Ensemble gemeinsam.
Technisch ist das Tanz auf hohem Niveau: Wie die einzelnen Körper zu einem kollektiven Unisono finden, ist bemerkenswert, auch weil die Spannung jeder einzelnen Bewegung bis in die kleinste Faser, das kleinste Glied zu spüren ist. Dennoch finden sich auch viele der typischen Bewegungen für das Leipziger Ballett, bei denen gern Wellen durch den ganzen Körper wandern, sodass sich die Frage stellt, wieviel Einfluss der britische Musiker wirklich hatte. Auch Harry Yeff scheint nicht an seine Grenzen zu gehen: Sicherlich sind seine Routinen versiert und die Leichtigkeit der Musik weist ihn als Meister seiner Disziplin aus, aber es geht doch selten über Standards hinaus.
So fehlt dem Abend ein richtiger Kern. Die KI soll im Zentrum des Ballettabends stehen, doch sie ist nur mit Mühe zu erkennen: Wo und was genau die KI beigetragen hat, bleibt vage. Vielleicht kann und soll Theater KI einfach nutzen, ohne daraus gleich einen PR-Coup zu machen, aber wenn sie in den Fokus gesetzt wird, sollte sie erkennbar sein. In der Choreografie in Leipzig wird weder eine Entwicklung gezeigt noch der neue Techniksprung genauer beleuchtet. Und weil das Ziel oder der Grund so unklar ist, bleibt der Abend trotz des hohen künstlerischen Niveaus etwas langatmig.