Foto: Brigitte Hobmeier, Hanna Scheibe, Vassilissa Reznikoff in "Spitzenreiterinnen" im Marstall © Birgit Hupfeld
Text:Anne Fritsch, am 28. Mai 2023
Im Münchner Marstall inszeniert Yana Eva Thönnes den Roman „Spitzenreiterinnen“ von Jovana Reisinger. Die Fassung hat sie mit der Autorin gemeinsam geschrieben. Sie verlagern den Konkurrenzkampf der Frauen im Buch in ein interaktives Rollenspiel.
„Es gibt diese Geschichten von Frauen, bei denen es gut ausgeht“, sagt einmal eine der Spielerinnen. Dass es für die, in deren Rollen sie hier schlüpfen, nicht gerade nach einem klassischen Happy End aussieht, ist da längst klar. Lisa hat ihre dritte Fehlgeburt hinter sich. Ihr Mann hat sich zu einer Jüngeren verabschiedet, weil er Vater werden will und sie anscheinend nicht abliefern kann. Laura hat für ihre Traumhochzeit monatelang nur Pulver und Nahrungsergänzungsmittel gegessen, hat sich ominöse „Kräutersticks“ in die Vagina gesteckt, damit diese eng genug wird, um ihrem Mann das Gefühl einer Entjungferung zu bieten. Als die Hochzeit da ist, fragt sie sich, ob das jetzt alles war. Barbaras Mann ist gestorben, drum tröstet sie sich mit einem fremden Hund. Und Tina wirkt zwar auf den ersten Blick wie ein Teil einer glücklichen satten niederbayerischen Familie, wird aber hinter verschlossenen Türen von ihrem Mann brutal misshandelt.
Das Leben: eine Challenge
All diese Geschichten und einige mehr erzählt Jovana Reisinger in ihrem Roman „Spitzenreiterinnen“. Eine Woche, nachdem Heike M. Goetzes Adaption am Staatstheater Kassel Premiere hatte, kam der Roman nun auch in München auf die Bühne: Regisseurin Yana Eva Thönnes hat ihre Fassung für das Residenztheater gemeinsam mit der Autorin geschrieben. Und die beiden gehen so frei mit der Vorlage um, wie das wohl nur möglich ist, wenn die Schöpferin selbst mit im Boot ist. Wo der Roman die Geschichten der insgesamt neun Frauen über weite Strecken als parallel laufende Handlungen erzählt, werden einige davon hier zum Spiel im Spiel, andere fallen komplett raus. Die vier Schauspielerinnen finden sich im Marstall in einem klinisch reinen, von Bildschirmen gesäumten Raum zu diversen Rollenspielen ein (Bühne: Dominic Huber). Sie können aus verschiedenen Charakteren wählen, eben den Figuren aus Reisingers Roman: „Lisa beißt die Zähne zusammen“ heißt es da als Spielanweisung oder „Laura kann ihr Glück kaum fassen“. Die Challenge: sich in Leben und Fühlen dieser Frauen zu begeben, ihre Geschichten zu erzählen.
Ein spannender Kniff, der eine Kommentar-Ebene öffnet und den Spielerinnen zumindest theoretisch erlaubt, aus ihrer Figur auszusteigen, wenn sie ihnen nicht liegt. (Eine Option, die das wirkliche Leben leider nicht bietet.) So verkündet Vassilissa Reznikoff recht schnell: „Das macht mir gar keinen Spaß, ich möchte was anderes spielen.“ Statt Laura spielt sie also eine Runde Petra, die völlig überqualifiziert ist für den schlecht bezahlten Empfangsjob in einer Galerie. Und nachdem Brigitte Hobmeier mit rotem Wackelpudding eindrucksvoll gespielt hat, wie Lisa vor lauter Frust in einem feinen Restaurant Muscheln und Schnecken auf andere Gäste wirft, gibt sie leise zu: „Ich würde jetzt gerne aufhören, das zu spielen. Es ist mir ein bisschen unangenehm.“ Doch das ist ebenso wenig möglich wie Caroline Conrads Wunsch gegen Ende: „Ich hab irgendwas falsch gemacht, ich möchte nochmal beginnen.“ Sie ist die, die von ihrem Mann misshandelt wird. Dass sie als Spielerin selbstverständlich glaubt, sie habe etwas falsch gemacht und zu diesem Ausgang beigetragen, ist bezeichnend.
Ein wenig schade ist, dass einige der Frauen deutlich konturenloser bleiben als andere. Auch im Roman werden nicht alle Schicksale mit der gleichen Intensität erzählt, hier aber wird das Ungleichgewicht deutlicher spürbar. Wo die Geschichten von Lisa und Laura intensiv durchdrungen werden, reißen Reisinger und Thönnes die anderen nur an. So bleibt die Geschichte von Barbara ein wenig unklar, auch wenn Hanna Scheibe unter der Euphorie der frischgebackenen Hunde-Besitzerin eindrucksvoll die Leere aufscheinen lässt, die der kleine Mischling füllen soll.
Gleichzeitigkeit des Ungleichen
Max Mayer schwirrt als türkiser Operator herum, muss die Männer mimen, die in dieser Welt nur Anfangsbuchstaben als Namen haben. Er muss für den Heiratsantrag in die Knie gehen und die Sauerei nach der Götterspeise-Schlacht wegputzen. Kurz: dafür sorgen, dass die Frauen in Ruhe spielen können.
Reisinger und Thönnes deklinieren die Strapazen durch, denen Frauen in verschiedenen Lebenslagen ausgesetzt sind. Die Spannweite reicht von Selbstbefriedigung gegen potentielle „Vagina-Depression“ über Fehlgeburten bis zum Messerangriff des gewalttätigen Mannes. Was hier abgeht, ist ein knallharter Contest in einer rosa-plüschigen Cyber-Welt. Alles dreht sich um die eine Frage: Wer gewinnt im „Frauengame“? Wer ist schöner? Dünner? Reicher? Fruchtbarer? Erfolgreicher? Glücklicher? „Ich kriege wieder alles, was ich will“, sagt Laura einmal stolz, als sie sich mit ihrer Freundin Verena vergleicht. „Und sie kriegt nichts.“ Als Verena durch eine Erbschaft ein „Upgrade“ bekommt, setzt Laura die Pille ab, um mit einem Kind Punkte zu sammeln. Sie hat sich für die Hochzeit dünn gehungert, die Freundin schaut aus wie immer: Ist das „mangelhafte Disziplin“ oder vielleicht doch „echte Zufriedenheit“? Irgendwo sind sie immer da, diese Zweifel am System.
Es ist die Gleichzeitigkeit des Ungleichen, die dem Roman seine Vielschichtigkeit gibt. Im Raum steht immer der Wunsch, patriarchale Strukturen durch weibliche Solidarität zu überwinden. Dieser Aspekt geht an diesem Abend leider ziemlich verloren, was schade ist. Jede bleibt hier für sich, kämpft für sich und gegen die anderen. Carolin Conrad, Brigitte Hobmeier, Vassilissa Reznikoff und Hanna Scheibe schaffen intensive Momente und Situationen, schöpfen ihr Potential voll aus. Gegen Ende macht sich eine gewisse Ratlosigkeit breit. Die Spiel-im-Spiel-Situation wird nicht aufgelöst. Wer denn nun gewonnen hat, ob es überhaupt eine Gewinnerin gibt in diesem Spiel? Das bleibt ein großes Fragezeichen.