So geht es im Stück um eine Geschwistertragödie im Herzogtum Amalfi, wo der Herzog starb und seine junge Witwe nicht gern ewig allein sein mag. Doch ihre beiden Brüder – Ferdinand von Kalabrien und der Kardinal – verbieten ihr eine weitere Hochzeit: nicht nur aus Sittengründen, sondern weil sie scharf auf den Reichtum sind, der ihnen als Erbe anheim fallen würde.
Außerdem hegt Ferdinand noch ein sexuelles Begehren zuungunsten seiner Zwillingsschwester. Währenddessen führt der Kardinal ein Doppelleben als frühzeitlicher Hooligan und darob auch gern mal in eine Uniform steigt, um sich auf dem Felde herauszufordern: Denn hier locken Gegner statt Opfer, Wölfe statt Schafe. Rings um das all das korrupte Gestadel, in dem die Herzogin frühfeministisch nach ihren Rechten strebt, gibt es einen edlen Haushofmeister Antonio, mit dem sie heimlich verheiratet drei Kinder hat und einen entlassenen Mörder namens Bosola, der als Spion angeheuert die neue Ehe enttarnt und so die Schlingen, Messer und Giftröhrchen zücken lässt …
Opulente Neufassung mit drei Sparten
Nun gibt es am Gerhart-Hauptmann-Theater in Görlitz eine opulente und äußerst ambitionierte Neufassung des Stoffes, die als Uraufführung auch erstmals den hehren Anspruch des Generalintendanten Daniel Morgenroth in Gänze verwirklicht, die Sparten künstlerisch zusammenzubringen: Zwar kommt die Musik – eingespielt von der Neuen Lausitzer Philharmonie, also dem Hausorchester, vom Band, aber der komplette Chor, die Tanzcompagnie und auch fünf prägende Schauspieler der in Zittau angesiedelten Sparte sind mit Verve dabei.
In dieser Fassung führt die Reise vom Alten Görlitzer Güterbahnhof über Old England nach Italien, Morgenroth verlegt das Geschehen – so wie einst Webster das Schicksal von der originalen Johanna von Aragon, die mit zarten zwölf Jahren per Ehe Herzogin von Amalfi und mit 19 schon schwangere Witwe ward – um reichlich 120 Jahre zurück. So sind wir in Görlitz zu Beginn des 20- Jahrhunderts und sehen sinngemäß dem militarisierten Adel als Vorboten des folgenden Faschismus zu.
Nun wird Morgenroths erstes großes Regiewerk zudem als “immersives Theatererlebnis” beworben, sodass der Wasserschaden durch die Sprenkleranlage im vergangenen Herbst, der das Görlitzer Opernhaus wohl auf Jahre unbespielbar macht, nicht die entscheidende Rolle für Art und Ort spielte. Jener ist nun ein lange ausgedientes Bahnhofsgebäude in bester Citylage, außen Ziegeldesign, innen mit solider Balkenoptik und diversen Räumlichkeiten in verschiedenen Verfallsstadien, die im dritten Jahrtausend noch keinem sinnvollen Zweck dienten.
Schwatz- und Handyverbot im Güterbahnhof
Dort wirbelten – und daher genießen sie zurecht einen bevorzugten Platz im edlen Programmheft – die sechsköpfige Technikerbrigade um Produktionsleiter Andŕe Winkelmann, dem Görlitzer Bühnenobermeister, und schufen mit dem Schweizer Bühnenbildner Damian Hintz eine eindrucksvolle Kulisse für einen entdeckungsreichen Theaterwalk, bei dem ein jeder selbst entscheidet, was er sehen will – und bei dem vorher klar ist, dass nicht alles der parallel laufenden Handlungen sichtbar sein wird.
Zudem herrscht Handy- wie Schwatzverbot. Das Publikum, mit weißen Augenmasken gekennzeichnet, umkreist hautnah die Darsteller, die sich dabei nicht stören lassen, folgt ihnen – oder bleibt am Ort: im Gemach der Herzogin, im lebendigen Burghof mit eingebauter Taverne samt Liedprogramm der Gesangsolisten Yvonne Reich und Hans-Peter Struppe mit Co-Repetitorin Olga Dribas am Klavier, dazu ein Pferdestall und ein Sargtischler, durchaus auch mit Kindersärgen beschäftigt.
In Nebengemächern kann man der Wahrsagerin (Ost-Ikone Blanche Kommerell, das Defa-Rotkäppchen von 1962, in einer netten Nebenrolle) lauschen, sich Strippern widmen oder dem Kardinal (mit toller Bibliothek) bei seinen Spielchen mit Schäfchen zusehen. Oder man kann in Ferdinands Führerbunker, mit roten Teppich und Thron hinterm Schreibtisch, aber auch mit ausgestopften Bär und modernen Liegelümmelsessel ausgestattet, dessen Wahnsinnsgenese entspannt beobachten, während seiner Abwesenheit (zu viele Intrigen) erobern drei der fünf Verrückten – akrobatische veranlagte Tänzer – sein Herrschaftszentrum.
Vierfaches Todesfinale in der Kathedrale
Er will – im Höhepunkt der Verwirrung – sechs Schnecken ohne Gewalt nach Moskau treiben und (als Test seiner Geduld) hinterherkriechen. Da hat er den Mord an seiner geliebten Schwester schon beauftragt. Der ganze Hofstaat gerät ob der Tat ins Wanken. Jonte Volkmann steht als Gast-Ferdinand den beiden dominierenden Paarkonflikten in seinem Wahn in nichts nach: Einerseits spielen Marc Schützenhofer als Vierfach-Mörder Bosola und Philipp Scholz als gieriger Kardinal den Machtkampf gediegen aus – genauso überzeugen Maria Weber und David Thomas Pawlak in ihrer klaren wie unschuldigen Liebe als Herzogin und Antonio.
Erst ganz zum Schluss (das schwarzmaskierte Hauspersonal flüstert allerorten, dass “das Ende naht”) öffnet sich plötzlich in der Mitte die vorher umkreiste “Kathedrale” fürs mörderische Finale samt Hoffnungsschimmer, der von der stimmgewaltigen Maria Brendel als stimmgewaltige Erzählerin vorgetragen wird. Die vier Herren der Schöpfung messermeucheln sich orginalgetreu im Dunkeln gegenseitig, nachdem sie zuvor die drei Damen erwürgt oder vergiftet haben, was ob der Länge der Spielfläche ziemlich seltsam anmutet.
Das Finale wird aber grandios von Chor und Tänzern gerettet, die ob der Wucht der Stimmen und der Anmut wie Kraft der Körper erstmalig Gänsehaut und acht Minuten begeisterten Premierenbeifall erzeugen. Auf das Ende des Originals – der erste Sohn der Herzogin sowie Antonios Höfling Delio überleben als neue Garde im Exil – kann so verzichtet werden. Der Abend lebt einerseits von der Einmaligkeit der eigenen Wahrnehmung, aber sicher auch von der (kollektiven) Reflektion des Geschehens. So setzt das GHT auf jeden Fall einen unikaten Tupfer in der Theaterszene in Sachsen und der gesamten Lausitz.