Szene aus "Appropriate"

Souverän ohne Meinungsbeton

Branden Jacobs-Jenkins: Appropriate (Was sich gehört)

Theater:ETA Hoffmann Theater Bamberg, Premiere:05.05.2023 (DSE)Regie:Sibylle Broll-Pape

In Bamberg fragt die Deutschsprachige Erstaufführung von Branden Jacobs-Jenkins „Appropriate“: Wie kann eine Gesellschaft, die so zerrissen ist wie die US-amerikanische, noch zusammenhalten? Der Inszenierung gelingt emotionale Differenzierung.

Und ewig zirpen die Zikaden … „Appropriate“ bedeutet im Amerikanischen nicht nur „Was sich gehört“ – so der Titel zur deutschsprachigen Erstaufführung des Stücks von Branden Jacobs-Jenkins am ETA Hoffmann Theater Bamberg – sondern auch „passend“ oder „angemessen“. Ein äußerst tückischer Doppelsinn also von etwas, wie es ist, und gleichzeitig, wie es sein sollte.

Der 1984 geborene Afroamerikaner Branden Jacobs-Jenkins hatte in seinem Schauspiel „Gloria“ bereits die Koinzidenz von rigorosem Karrierismus, Gewalteskalation, Egoismus und Empathie-Verlust in den Zivilgesellschaften auf die Spitze getrieben. In „Appropriate“ schlägt er nun mit gewitzten Dialogen, messerscharfen Figurenprofilen und einer exzellent strukturierten Story in die Genre-Kerbe des Familienstücks mit enttarnten Lebenslügen à la „Die Katze auf dem heißen Blechdach“.

Sein Südstaaten-Drama unterscheidet sich beträchtlich vom Utopie-Verlust eines schartig gewordenen amerikanischen Traums bei Tennessee Williams. Dabei nutzt Jacobs-Jenkins tradierte Handlungsscharniere des 20. Jahrhunderts über von Familienmitgliedern im freien Fall unterschiedlich ausgelebte Traumata und beschwichtigende Verdrängungsmechanismen. Das Kernwort der „Was sich gehört“-Story lautet hochaktuell: „White Fragility

Familiengeschichten

Jacobs-Jenkins‘ besonderer Kniff ist, dass Opfer und Objekte des weißen Rassismus in „Appropriate“ nicht persönlich auftreten: Ganz nah dran war der verstorbene Familientycoon Lafayette, der neben einem Haus im Halb-Urwald seinen Hinterbliebenen Kistenberge fragwürdigen Inhalts hinterlässt, über die Gewalttaten gegen Nachkommen der Südstaaten-Sklaven. Besonders eklig für die bestens aufgeklärten und korrekt gesinnten Nachkommen sind die in Alkohol konservierten Organe und Geschlechtsteile von offenbar bei Lynchaktionen zu Tode gekommenen nicht-weißen Menschen und ein Fotoalbum mit darin festgehaltenen Gewalt- und Sexualdelikten.

Die hinterbliebenen Kinder in vorgerücktem Alter, deren Partner und halberwachsenen Sprösslinge haben  ihre eigenen Methoden für ehrenwerte, aber auch vermögensorientierte Abwehr-, Aufarbeitungs-, Bewältigungs- und Versöhnungsarbeit. Im Zentrum steht die dominante, von allen gescholtene und in Lieblosigkeitsalkoholismus abgestürzte Tony (vielschichtig zwischen Hyäne und Opfer: Barbara Wurster) neben ihren Brüdern Bo (harte Schale, weicher Kern: Jonas Gruber) und Frank (Schwarzes Familienschaf mit Reue-Potenzial: Daniel Seniuk).

Unfreiwilliges Dynamit: Die 13-jährige, bestens Online-affine Cassie (Jeanne Le Moign) und die mittels esoterischer Geistmittel besser durchs Leben schwebende River (Wiebke Jakubicka-Yervis). Satirisches Glück im Krankheitspannenfall: Als kurzfristige Einspringerin für die Rolle der Jüdin Rebecca handhabt Martina Dähne die notwendige Textbuchnutzung souverän und setzt dem Schmutzwort-Optimierungswahnsinn noch eins drauf, indem sie die heftigsten „Sch…V…“-Sprachkreationen abzulesen vorgibt.

Raum für Meinungen

Jemand hat kräftig an der Theater-Uhr gedreht seit Williams. So hart Jacobs-Jenkins‘ Familienrealität und -vergangenheit ist: Im Internet gibt es immer weit Schlimmeres. Das Schwierige ist an diesem Text, dessen Pointenfülle nicht auf dem Leim zu gehen und damit in die Schwarz-Weiß-Polarisierung eines perfekten Boulevardstücks hineinzugleiten. Dieser Gefahr entkam die Premiere des ETA Hoffmann Theaters souverän durch emotionale Differenzierung. Dazu hat Ausstatter Rainer Sinell den im Sinne eines poetischen Realismus idealen Bühnenraum geschaffen. Manuela Hertels Videos liefert den sich mit Scherengriffen um das Haus und Streitobjekt legenden Urwald. Wenn die Familienfehde nach drei drastischen Stunden in den Pausenmodus tritt, übernehmen die Zikaden und Zikadenlarven mittels Video das Renaturierungs- und Sanierungsprogramm. Sinells Bühnenpanorama mit der durch weißen Aufstrich sanften Vintage-Tönung und bedachten Requisiten-Setzungen bebildert alle von Jacobs-Jenkins aufgegriffenen Topoi: das verwunschene Haus, die metaphorische Apokalypse, die virtuose Konversationsschlacht.

Man merkt den Wandel der Zeit auch daran, dass die Onanieszene des sexuell unentschlossenen und an seiner überprotektiven Mutter Tony leidenden Rhys (Leon Tölle) zum Smartphone-Porno eine Szene ist wie jede andere. Oder liegt’s am gelungenen Zugriff durch das brillante Ensemble und die Regie, auch Armin Breidenbachs tiefengeschärfte Dramaturgie? Diese halten die Balance zwischen charakterlicher Schärfung, Dialog-Pingpong und vom Autor evozierter Spiellust ausgezeichnet. Intendantin Sibylle Broll-Pape praktiziert – vor allem das ist ein Vorzug – keine moralische Besserwisserei aus Wolke Sieben. Damit schmeißt sie den Ball mit der Aufforderung zur persönlichen Meinungsbildung mit einer gewissen Härte ins Publikum. Broll-Papes Methode ist ganz einfach, weil sie ein Prinzip des objektivierenden Erzählens auf die Bühne überträgt. Recht – und damit den moralischen Bonus – hat bei ihr immer die Figur, welche gerade spricht. Damit sind Pro und Contra gleichmäßig verteilt – und es ergeben sich Gedankenfreiheiten zum Hauptthema White Fragility.

Da steht sich – zumindest in der pointierten Übersetzung durch Christine Richter-Nilsson und Bo Magnus Nilsson – der Autor selbst etwas im Weg. Denn seine Dialoge greifen so geschliffen ineinander, dass die Intention hinter dem bizarren Situationswitz manchmal verschwindet. Das ist aber weitaus besser als ein Theaterabend, dessen moralische Tendenz schon in den ersten Minuten feststeht. Insofern liefert diese Premiere auch ein tolles Plädoyer für ein vitales Theater gegen Meinungsbeton und Gesinnungsdiktate.