Theater für junges Publikum: AUGENBLICK MAL! in Berlin
Foto: MOD © Katrin Schander Text:Manfred Jahnke, am 27. April 2023
Vom 21. – 26. April 2023 fand in Berlin mit AUGENBLICK MAL! das einzige bundesweite Theaterfestival für junges Publikum statt. Längst ist es kein Insider-Arbeitstreffen mehr – und Partizipation wird groß geschrieben.
Das Festival des Theaters für junges Publikum in Berlin, „Augenblickmal!“, organisiert vom Kinder- und Jugendtheaterzentrum in der Bundesrepublik Deutschland, gehört zu den wichtigsten Treffen in diesem Genre. Jeweils fünf „herausragende Aufführungen“ für Kinder und Jugendliche – so der künstlerische Leiter des Festivals Gerd Taube – wählen fünf erwachsene Kuratorinnen und Kuratoren aus. Da regt sich Widerstand. In der Vergangenheit gab es immer wieder Kritik, dass auf diesem Festival – einst als Arbeitstreffen nationaler und internationaler Macher konzipiert – wenig Raum für das Zielpublikum gelassen wird. Mit anderen Worten: in den Vorstellungen saßen die Kollegen und Kolleginnen unter sich. Das hat sich geändert.
AUGENBLICK MAL! ist kein Arbeitstreffen mehr. Seine Anziehungskraft scheint es für nationales wie internationales Fachpublikum zu verlieren. Stattdessen gibt es Auseinandersetzungen über den überstrapazierten Begriff der Partizipation. Eine Gruppe von sechs Jugendlichen, die 2021 die digitale Ausgabe von AUGENBLICK MAL! begleitete, sich aber „nicht eingeladen“ fühlte, hat in den letzten zwei Jahren ihre Ansprüche auf Teilhabe angemeldet. Sie wurde auch beratend bei den Kuratoriumssitzungen für das diesjährige Festival hinzugezogen. Aber die Gruppe will mehr, sie will nicht mehr beraten, sie will mitentscheiden und fordert für das Festival 2025 drei Sitze im Auswahlgremium.
Der neue Einfluss von Jugendlichen aufs Programm
Abgesehen von den zehn Aufführungen, bei deren Auswahl die „Vertretung für junge Perspektiven“, wie die sechs Jugendlichen sich nennen, beratend aktiv wurde, zeigt sich ihr starker Einfluss auf das Beiprogramm des diesjährigen Festivals, das nicht nur durch und durch partizipativ strukturiert war und Fachpublikum zu Zaungästen machte, sondern allen „woken“ Themen sich öffnete: Rassismus, Adultismus und natürlich Empowerment, geht es doch um Ermächtigung, bzw. Selbstermächtigung. Ein „Awareness Team“ – mittlerweile selbstverständlicher Standard einiger Kinder- und Jugendtheatertreffen – konnte man im Fall einer Diskriminierung oder Grenzverletzung ansprechen. Und selbstverständlich auch gab es an den Türen der Aufführungsräume Triggerwarnungen, die nicht nur den Einsatz von Bühnennebel (der reichlich eingesetzt wurde) oder Stroboskop als Gefährdung ankündigten, sondern auch vor Inhalten warnten.
Wo auf so viel Konfliktvermeidung im Vorfeld geachtet wurde, verwundert nicht, dass in den Nachbereitungsgesprächen zu den Aufführungen auch der Konsens des „Friede, Freude, Eierkuchen“ vorformuliert wurde. Obwohl ein großes Angebot an diversen Gesprächsformaten vorbereitet wurde, gab es nur relativ wenige, in die die betroffenen Theatermacherinnen und -macher eingebunden waren und noch weniger solche, in der man sich kritisch mit Inhalten und Formen der gezeigten Stücke auseinandersetzen konnte: Es war, als ob eine unausgesprochene Triggerwarnung vor Kritik, die ja als verletzend aufgenommen werden kann, diese Nachbereitungen regierte. Stattdessen wurde theaterpädagogisches Handeln durch erlebnispädagogische Aktionen ersetzt, da wurde mit Bonbons, mit Kaltgetränken, mit Spaziergängen, etc. um das Publikum gebuhlt. Man durfte Fragen formulieren, aber beim Bonbonlutschen muss man keine Antworten finden. Zwar ist „nichts verführerischer als eine Frage“, wie wir von Brecht wissen, als Ausgangspunkt einer Forschung. Aber was ist, wenn man gar nicht mehr wagt zu forschen in Erwartung eines Shitstorms?
AUGENBLICK MAL! im Umbruch
Zweifellos ist AUGENBLICK MAL! im Umbruch. Partizipation zielt nun auch die Organisation selbst, obschon, wie das Auswahlgremium in seinem Reisebericht beklagt – „Aufgefallen ist uns auch, dass wenig wirklich Partizipatives angeboten wird…“ – die Widersprüche werden also greifbar und werden die Diskussion der nächsten Jahre beherrschen.
Wo das Kernstück eines Theaterfestivals, die Aufführungen, so in Watte eingehüllt werden, dass sie in dieser Wolke fast verschwinden, ist es doch erstaunlich, mit welcher Vielfalt der Spielformate die Szene auftreten kann, wobei sich zwischen den Angeboten für Kinder einerseits und den für Jugendlichen andererseits signifikante Unterschiede auftun. Während für die Kleinen die Dramaturgie des Spielens prägend ist, lässt sich im Angebot für Jugendliche eine Tendenz nicht so eindeutig formulieren: Es gibt eine Vielfalt von Formen, wenn auch eine kleine Vorliebe für wummernde Bässe, Bühnennebel, farbiger Beleuchtung und direktes Publikumsanspiel erkennbar ist. Beiden Tendenzen ist eigen, dass es in dieser Grundstruktur viele dramaturgische Möglichkeiten und Sujets gibt. Auffällig ist, dass es nach anfänglichen Spielereien – sozusagen als Auflockerungstraining für das Publikum – in den Aufführungen thematisch eine ernste Wende gibt.
Das Theater Marabu aus Bonn beherrscht diese Dramaturgie perfekt. In ihrer Freilichtproduktion „Master of Desaster“ tritt das Ensemble in blauen Overalls als Blasorchester auf, outet sich aber schnell als „Straßenunterhaltungsdienst“. Da wird mit viel Klamauk und Publikumsanspiel der Rasen gesäubert, bis plötzlich mitten auf der Wiese ein Ranzen steht, der sich bewegt. Mit großem Einsatz wird der Raum hin zum Publikum abgesperrt, werden Versuche gemacht, sich dem verdächtigen Objekt anzunähern, bis dann erstmalig die Supermaschine HP49-T12 zum Einsatz kommt. Vor den Katastrophenmomenten, die das Ensemble in seinem Spiel benutzt, erweist sich der Inhalt des Ranzen harmlos: er enthält eine Reihe kleiner beschriebener Zettel, in der Kinder ihre Sorgen und Ängste notiert haben – und die haben es in sich. Sie werden teilweise verlesen, teilweise auch wandern sie durch das Publikum. Am Ende werden dann die anwesenden Kinder aufgefordert, auf Zettel ihre Sorgen zu notieren, um den Ranzen für die nächste Vorstellung wieder aufzufüllen.
Theater für Kinder und Jugendliche
Wenn das Theater Marabu zunächst eine Kulisse leichter Unterhaltung aufbaut, um dann zum Ende hin einen klaren Bruch zu setzen, entwickelt Isabelle Schad in ihrer ersten Tanzproduktion für kleine Kinder „Harvest“ in Zusammenarbeit mit dem Theater o.N. eine meditative Haltung. Im Raum stehen großen Äste einer Weide, die auf dem Aufführungsgelände der Wiesenburg gestutzt wurde, und Reisigbündel aus Weidenzweigen, die von Aya Toraiwa, Manuel Lindner und Jan Lorys zu immer neuen Raumordnungen geführt werden. Zum Live Sound von Damir Simunovic bewegen sich die Tänzerinnen und Tänzer langsam durch den Raum. Sie erkunden balancierend mit den Ästen ihr Material, bewegen sich dabei auch ganz nah am Publikum, so dass die Sorgfalt mit der Schad arbeitet, hautnah greifbar wird. Dabei wirken deren Bewegungen mit den Weidenzweigen so schön, dass man fast darüber vergisst, dass es hier um Nachhaltigkeit geht, ein Thema, das auch in einer anderen Produktion für Kinder im Zentrum steht: „Dinge dingen“ von Julia Keren Turbahn und Jan Rozman mit dem Gebärdensprachler Jan Kress in Zusammenarbeit mit dem „FELD Theater“ in Berlin.
Was nach einer Auseinandersetzung mit der Philosophie Heideggers klingt, ist ein wunderbares Stück Materialtheater. Da werden lauter Dinge auf die Bühne gereicht, untersucht, nach ihrer Verwertung gefragt, ins Tanzen gebracht, kurz: eine intensive Spielstunde, die der Fantasie weite Räume lässt und ihre Lektion so unmerklich ins Spiel einbaut, dass es wirklich Spaß macht, nachhaltig zu arbeiten. Eine Enttäuschung hingegen „Frederick die Maus“ von „vorschlag:hammer“ nach dem Bilderbuch von Leo Lionni, konzipiert als Einführung in die Welt des Theaters. Im Foyer sitzt zunächst das Publikum auf Kissen, darf zuschauen, wie sich der sympathische Stephan Stock per Anweisungen von Gesine Hohmann über Zoom in eine Maus verwandelt. Dann darf es im Raum verstecktes Obst, Kartoffeln und Süßigkeiten über ein Rohrsystem in den eigentlichen Spielraum gleiten lassen, den nun auch das Publikum betritt. Stock spielt mit der Zeit: Damit der Winter schneller vergehen kann, darf das Publikum nun Obst und Süßigkeiten vernaschen, sich mit Beleuchtungstricks beschäftigen oder singen. Da ist alles von großer Beliebigkeit und es ist kein Zufall, dass, trotz des „Interaction Design“ von Sebastian Arnd, Stock, je länger die Aufführung dauert, seinen Charme verliert.
Als Übergang zwischen einem Theater für Kinder und einem solchen für Jugendliche lässt sich „Robin und die Hoods“ von der Kölner Gruppe pulk fiktion begreifen. In ihrer Produktion für Kinder ab 8 nehmen sie den alten Stoff, erinnern an die Filme, üben Kampfchoreografien, wenn sie nicht die Bässe und die Drums bedienen. Julia Hoffstaedter, Franziska Schmitz, Marouf Alhassan und Nicolas Schneider verteilen dabei Geld ans Publikum, das wieder eingesammelt wird, stellen brisante Fragen zum Thema (wenn auch manchmal sehr pädagogisch wissend) an das Publikum. So wird der alte Mythos von Robin Hood zum Modell, wie eine Umverteilung des Vermögens gegenwärtig zu bewerkstelligen wäre, von Marcus Thomas mit viel Witz in Szene gesetzt. Ähnlich witzig, mit überdimensionalen Schamhaaren und grünschleimig platzenden Pickeln erzählen Janna Pinsker und Wicki Bernhardt in Koproduktion mit dem Mousonturm Frankfurt und dem Jungen Nationaltheater Mannheim in „Body Boom Boom Brain“ von den Schwierigkeiten der Pubertät. Als Bezugsrahmen wählen sie das Theater selbst mit seinen Katastrophen – wie sie eben auch die Pubertät bestimmen. Das ist klug gemacht, auch, wenn im violetten Licht ein kitschiges Herz vorbei zockelt, aber auf Dauer nutzt sich der Witz ab.
Tanz gegen Rassismus und dystopisches Schauspiel
Die Musik von Strawinskis „Le Sacre Du Printemps“ mit den Tanzstilen des Krumping zu verbinden, das gelingt den Tanzkomplizen aus Berlin mit dem Choreografen Grichka Caruge in „A Human Race – The Rite of Krump“ auf eine überzeugende Weise. In einem mit Sand geformten Kreis agiert das fünfköpfige Ensemble mit heftigen Stomps, Chestpops und Armswings einerseits genau zu der Musik. Andererseits verwischen sich die Grenzen, wenn der Sandstreifen immer mehr verteilt wird: ein intensiver emotionaler Ausdruck gegen Ausgrenzung und Rassismus, wobei jede und jeder einzelne Krumper seine Eigenwilligkeit betonen konnte. Wenn zum Krumping gehört, dass das Publikum mit in den Tanz einbezogen wird, so entfällt das in dieser beeindruckenden, sehr energetischen Produktion.
Als Schauspiel mit Puppen, Videofilmen, Zitaten aus Katastrophenfilmen hinterlässt hingegen die Uraufführung von „Bambi & Die Themen“ von Bonn Park, der auch Regie führt am Jungen Schauspiel Düsseldorf, einen zwiespältigen Eindruck. Die drei Figuren aus der berühmten Disneyverfilmung Bambi (Ali Aykar), Klopfer (Eduard Lind) und das Stinktier Blume (Felicia Chin-Malenski) in überdimensionierten Tiermasken brechen auf in eine dystopische Welt, in der Vulkane und Wälder brennen. Und sie haben viele Fragen, die als Fließtexte der Figur der „???“ (Eva Maria Schindele) daherkommen. In ihren Textflächen verweist sie eher auf Dystopien, die die drei Freunde mit ihren Fragen allein lassen. Die drei müssen begreifen, dass sie in einer Welt des „schwebenden Unbehagens“ leben. Paula Wellmann hat dazu eine idyllische Landschaft geschaffen, im Grün stehen Hochhäuser, eine kleine elektrische Eisenbahn fährt manchmal durch das Bühnenbild. Wenn da nicht die Feuer wären, Dinosaurier über die Bühne stapften, die die Hochhäuser zerquetschten. Bonn Park arbeitet dabei auf mehreren Ebenen: Er lässt Bambi, Klopfer und Blume als Menschen in Masken agieren, die Marionetten, die die drei Tiere vorstellen, führen – die allerdings nicht animiert werden. Diese Marionetten werden wiederum abgefilmt, so dass in der Projektion die Figuren größer werden. In diesem Spiel – später nehmen die Spieler die Maske ab und werden die Marionetten auch einmal durch Flachpuppen ersetzt – wird die Brüchigkeit dessen, was wirklich, was irreal ist, in Szene gesetzt. Die Unsicherheit darüber, dass mit unserer Wirklichkeit etwas nicht in Ordnung ist, aber dieses Gefühl nicht wirklich begrifflich greifen zu können, das macht die Botschaft dieser Disney-Überschreibung aus. Aber auch über die Ebene der Sprache entwickelt die Inszenierung ein irritierendes Potential: das Ensemble spricht trotz aller Katastrophen, die auf der Bühne vorgeführt werden, in einem ruhigen, fast monotonen, unbeteiligten Ton, so, als ob ihnen der Untergang dieser Welt nicht angeht: Man nimmt sie hin. In dieser Beschreibung einer Haltung ist Bonn Park ganz nah an gegenwärtigen Gefühlslagen.
Lyrik mit Musik
Wenn Bonn Park schon die Katastrophenhaftigkeit unseres Seins in einer fast meditativen Tonlage abhandelt, so gehen da die Gruppe subbotnik und das Theater an der Ruhr mit „Lyriks… von Unendlichkeit umarmt“ noch einen Schritt weiter. In einem musikalischen Ambiente – das siebenköpfige Ensemble beherrscht brillant ihre Instrumente – entwickelt sich eine Aufführung, in der nach einem starken Einstieg mit Ernst Jandl’s „Wanderung“, ein Text der in unterschiedlichen Konstellationen wiederholt und musikalisch verschieden grundiert wird. Einen starken Auftakt bedeutet auch das Gedicht „Das Segel“ von Lermontov, dem russischen Dichter aus dem 19. Jahrhundert. Oleg Zhukov trägt es auf Ukrainisch vor, erzählt davon, wie jeder sowjetische Schüler dieses Gedicht auswendig lernen musste. Ein anderer Spieler steigt ein, der dieses Gedicht als Lied lernen musste. Ein starker emotionaler Einstieg war das, der persönliche Erfahrung und Weltdeutung in unmittelbaren Zusammenhang sinnlich machte. Leider gab es in den folgenden Gedichten diese Verflechtung von individueller Geschichte und poetischem Text nicht mehr, nur das Prinzip variierender Wiederholung bleibt erhalten. Warum denn das Ensemble auch noch ein Improvisationsspiel des „Hier und jetzt“ einsetzen musste, in dem aus den Zurufen des Publikums zum Thema „Geräusche, die heute nachhaltig auf uns gewirkt haben“ kleine (Verlegenheits-)Spiele entstanden, nimmt dieser Produktion die zarte Poesie des Anfangs weg.
Wenn man sich den Ertrag dieses Festivals, was die Aufführungen betrifft, anschaut, ist er gar nicht so schlecht. Schließlich sollte man sich vergegenwärtigen, dass die Auswahl der Inszenierungen zu einem Zeitpunkt stattfand, als Corona noch das kulturelle Leben eisern umklammerte – und das die Ausflüge in unterhaltsame Gefilde viel mit dieser Zeit zu tun haben. Was bedenklich stimmt, ist das drumherum. Naturgemäß sollte ein Festival immer am Puls der Zeit sein und sich ständig erneuern. Insofern findet sich AUGENBLICK MAL! in einer schwierigen Phase des Umbruchs, aber auch dieses Festival muss lernen, dass nicht nur nach Peter Szondi das Drama durch Konflikt definiert wird: Die Versuche, einen Begriff wie „Konflikt“ zum Verschwinden zu bringen und in einer konfliktfreien, „woken“ Family weichzuspülen, verschärfen eher die zugrundeliegenden Probleme als sie zu lösen. Ein Bewusstsein über den alltäglichen Rassismus entsteht in diskursiven Auseinandersetzungen, die sich nicht scheuen, Konflikte direkt anzusteuern, aber zugleich bereit sind, gemeinsam Lösungen zu suchen. Klar: das ist der Habermas der alten Schule und damit der Aufklärung verbunden. Aber wer will noch einen Begriff wie „Vernunft“ oder gar „Verantwortung“ praktizieren? Interessanterweise gab es zwei traditionelle Veranstaltungen, bei der das Fachpublikum sich traf: die Verleihung der ASSITEJ-Preise und die Verleihung des von der GASAG Berlin gestifteten Berliner Kindertheaterpreises im Grips-Theater. Und da gab es wieder Dramatik mit Konflikten, wie im Stück „Woche – Woche“ der Preisträgerin Lara Schützsack, in dem die Sorgen und Nöte eines Scheidungskindes verhandelt werden. Oder in der Kriminalkomödie „Ertappt“ von Marie Hüttner, die den Förderpreis erhielt. Beides sind Texte mit einer klaren Narration.